Cherkaouis "Milonga" in St. Pölten.

Foto: Kenton

Wien / St. Pölten - Der Plateau-Effekt hat etwas Beunruhigendes. Er zeigt sich, sobald eine Entwicklung stagniert. Wenn etwa ein Medikament nur noch in erhöhter Dosis wirkt. Oder ein Pflanzenschädling auf das gegen ihn eingesetzte Mittel mit Resistenz reagiert. Und wenn sich ein Publikum an eine bestimmte Form von Kunst gewöhnt hat.

Zwei Choreografen haben am Wochenende gezeigt, dass die Beunruhigung über den Plateau-Effekt ganz unterschiedliche Qualitäten haben kann. Der Schwede Jefta van Dinther hat sein neues Stück, das vom Tanzquartier präsentiert wurde, gleich nach diesem Effekt benannt. Und der Belgier Sidi Larbi Cherkaoui zeigte mit Milonga im Festpielhaus St. Pölten, wie er aus dem argentinischen Tango vor allem dessen Klischee herausholen konnte.

Auch aus der Gewöhnung, dem "Plateau", wird Lust gezogen. Im Vertrauten fühlen sich so gut wie alle sicher. Die Wiederbegegnung mit als wertvoll Erkanntem bereitet Freude. So kamen bei Milonga Freunde des Tangos ganz auf ihre Kosten. Tango verströmt den Geruch der Gefahr. Er ist ein schwüler bis nachdenklicher Tanz, der sich gegenüber Regulierung und Correctness bockig verhält.

Er hat etwas Animalisches, elegant Schmutziges, Verrauchtes und Verruchtes. Der Tango-Mann glänzt häufig mit einer ölteppichhaften Frisur, und die Frau biegt sich wie eine Peitsche in seinen Armen. Manchmal schnalzt ihr Bein zwischen den seinen hervor. Man erinnert sich da an Carlos Sauras Film Tango, no me dejes nunca von 1998 oder, noch besser, an die schweren Milonga-Verse von Jorge Luis Borges aus den Sixties des vorigen Jahrhunderts.

Borges' Oden an jene harten Herren, die dereinst mit Gitarre und Knarre auf Messers Schneide tanzten, sind legendär: düstere Skizzen sozialer Realität in den Vorstädten und philosophische Miniaturen wüst anmutender zwischenmenschlicher Verhältnisse. In die Tiefen von Borges hätte sich Cherkaoui ohne weiteres hineinbegeben können. Seine fabelhaften Tänzerinnen und Tänzer wären ihm dabei sicher gerne gefolgt. Aber so hat das Stück beunruhigenderweise in der Hälfte ein Plateau erreicht, auf dem die Kür zur Pflicht wird. Als Folge ist Milonga das bisher am wenigsten tiefgängige Stück des Choreografen geworden.

Um tänzerische Virtuosität in der Art des Tangos oder des Balletts geht es in Jefta van Dinthers Plateau Effect nicht. Seine neun Tänzer aus dem berühmten schwedischen Cullberg Ballet zeigen hier ihre Fähigkeit, sich auf ein herausforderndes Experiment einzulassen: Wie ist der Plateau-Effekt ohne große Erklärung darzustellen? Die Musik dafür stammt von David Kiers, und für die Eingangsszene hat van Dinther einen neuen Text auf den von Sigridur Kristjansdottirs bearbeiteten Song Friday Night der kanadischen Sängerin Chinawoman geschrieben.

Dieses Lied singen die Tänzer mit ihren Lippen zu einer Stimme aus den Lautsprechern. Sie sind in einen grauen Vorhang gedrückt, der in immer stärkere Bewegung gerät und die Tänzer in sich hineinzieht. Während die Musik an Intensität zunimmt und das Licht ins Flackern gerät, versucht die Gruppe, aus diesem Vorhang mithilfe von Stricken eine Struktur zu bauen - ein Zelt, eine Landschaft, ein Segel, eine Skulptur. Grüne, blaue Blitze zucken.

Doch nahe seinem Höhepunkt verflacht dieses Anschwellen. Das Plateau ist erreicht. Die Tänzer formen einen banal wirkenden Wurm aus dem Vorhang und hängen ihn in den Raum. Die durch diesen Plateau-Effekt ausgelöste innere Spannung lässt ihre Körper am Ende förmlich aus sich herausspringen. Das Experiment ist gelungen. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 19.11.2013)