Christian Fleck: Nur nicht vom Pfad geteilter Tugend abweichen.

Foto: http://www.mediendienst.com/Sissi Furgler

Parteipolitik der ruhigen Hand (im Bild der Kanzler und sein Vize): Nur nicht auffallen ist die politische Essenz des wirtschaftlichen Wohlstandes in Österreich.

Foto: Standard/Cremer

Je reicher eine Gesellschaft wurde, eine desto größere Zahl ihrer Mitglieder konnte von produktiver Arbeit freigestellt werden. Damit wurde demonstrativer Müßiggang möglich, der vor mehr als 100 Jahren den amerikanischen Sozialwissenschafter Thorstein Veblen veranlasste, von einer so genannten "leisure class" zu sprechen. Ins Auge springend war deren Bemühen, die anderen durch Zurschaustellung des eigenen Wohlstandes zu beschämen. Seit Veblen hat sich der materielle Wohlstand im reichen Teil dieser Welt um mehr als das Sechsfache vermehrt, die Lebenserwartung hat sich verdoppelt. Heutige Bürger reicher Länder haben kaum noch die Möglichkeit, andere durch demonstrativen Konsum zu beeindrucken - doch womit stattdessen?

An die Stelle der Salons, Droschken und "trophy women" ist seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert die öffentliche Bekundung von Meinungsäußerungen getreten. Wirklich beeindrucken können wir heute andere durch ungewöhnliche Gedanken, die wir nicht zögern, auch auszusprechen. In Anlehnung an Veblens "Theorie der Leisure Class" könnte man von einer "Talking Class" sprechen, oder auf Deutsch: über die Entstehung der quasselnden Klasse berichten.

Bemerkenswert ist an deren Mitgliedern, erstens, dass sie sozial selbstgenügsam sind, vornehmlich mit ihresgleichen sprechen. Volksbildnerisches Bemühen ist rar, weil nicht sexy. Statt Zuhörern Fragen zu beantworten, gibt's Followers, Retweeten und "Gefällt mir" -Buttons. Zweitens reden sie vielleicht nicht gerne, aber doch regelmäßig über Dinge, von denen sie so wenig Ahnung haben, wie die ihnen Folgenden - und gerade deswegen akklamiert werden. Das hat damit zu tun, dass zur Aufrechterhaltung der Mitglied- und Anhängerschaft Präsenz nötig ist, doch Schnelligkeit hat der Urteilskraft noch selten gutgetan. Zum anderen herrscht auch in dieser Gruppe Konsensdruck: Wer allzu weit vom Pfad der geteilten Tugend abkommt, wird abgestraft. Die quasselnde Klasse wiederholt sich, weil Neues Recherche und Nachdenken nötig hätte, doch Zeit hat man nicht.

Viele Bekundungen nach der Nationalratswahl eignen sich, einem Lehrbuch über die Quassel-Klasse als Illustrationsmaterial zu dienen.

Der Abfüller von Soft-Drogen in Dosenformat, Männer der Kirche, Gründer von Thinktanks rivalisieren mit Kolumnisten, Leitartiklern und all den anderen, die ihren Lebensunterhalt mit Meinungen verdienen, doch Erstere bieten nichts, was Letztere nicht ohnehin abzuliefern haben: Meinungen, Meinungen, Meinungen zu einem Vorgang, dessen Ausgang von Anfang an feststand - SPÖVP werden weitermachen.

Da daran nicht zu rütteln ist, wendet man sich Facetten zu, die für die Sache belanglos sind, aber bequasselt werden können. Man redet über Aussehen, Auftreten, Stil, beklagt das Fehlen von Charisma und Redegewandtheit, flugs wird Politik zum Schönheitswettbewerb.

Mit all der Hingabe, die nur dem Genießer möglich ist, spricht man jene Varianten durch (Minderheitsregierung, etc.), die garantiert keine Chance haben.

Meinung, Meinung, Meinung

Wenn es um Geld geht, treffen wir jene Bekundungen, die an den Stammtischen auch zu hören sind: Alle wissen, wie ein Staatsbudget zu handhaben sei - und keinem fällt im Moment, in dem sie ihre tief empfundenen Meinungen zum Besten geben, auf, dass einer, der wie sie, nur ein bisserl weniger eloquent, argumentierte, bei der Wahl gerade einmal einen unter 25 Wahlberechtigten zu überzeugen vermochte.

Die Ultrastabilität des immer Gleichen, die der quasselnden Klasse so zuwider ist, war bislang der Garant für unseren Wohlstand und dessen stetige Zunahme. Eine derartige Konstellation zieht natürlich jenen Persönlichkeitstypus an, der zu diesen politischen Verhältnisse passt. Wer es in einer der Ex-Großparteien zu etwas bringen will, tut gut daran, nicht allzu sehr aufzufallen, aus der Reihe zu tanzen, den Star zu mimen. Josef Cap, der einmal diesen Fehler beging, wird seit 30 Jahren daran erinnert, oft genug deswegen verhöhnt - wir müssten uns die Nachkommenden als Deppen vorstellen, wenn sie nicht am Modell gelernt hätten.

Das Schicksal der Quereinsteiger, Parteigründer und selbsternannten Kandidaten könnte die Besserwisser belehren. Aber statt zu realisieren, dass der Beruf des Politikers erlernt zu werden hat, und wenn ihn dann jemand ausübt, auch nicht gern aufgegeben wird, entwirft die quasselnde Klasse für Politiker eine Arbeitsplatzbeschreibung entlang ihrer Fantasmen.

Die Zustimmung der Massen vulgo Bevölkerung streben die Quasselnden vermutlich gar nicht an, doch ich fürchte, sie wissen nicht einmal, wie weit sie und ihre Meinungen von einem die heimische Politik wirklich verändernden Einfluss entfernt sind. Während im Alltag ungebetene Ratschläge eher selten wiederholt werden, findet das bei der Kommentierung österreichischer Politik dauernd statt. Ein Running Gag, dessen Unterhaltungswert inflationär kleiner wird. (Christian Fleck, DER STANDARD, 16.11.2013)