Die Österreicher arbeiten zu lange, meint Jörg Flecker, Professor für Soziologie an der Universität Wien.

Foto: Franziska Beer

Bild nicht mehr verfügbar.

Mittlerweile sind weit mehr Branchen als nur der Bau von unsicheren Beschäftigungsverhältnissen betroffen.

Foto: AP/dapd/Augstein

derStandard.at: Wie viele Stunden arbeiten Sie pro Woche?

Flecker: Grob geschätzt ungefähr 40 Stunden, manchmal etwas mehr.

derStandard.at: In Österreich liegt der Schnitt bei 42 Stunden pro Woche. Arbeiten die Österreicher zu viel?

Flecker: Ich finde schon. Es zeigt sich, dass viele eine lange Erwerbstätigkeit gesundheitlich nicht durchhalten. Die Belastungen nehmen zu, wenn die Arbeitszeit lang ist. Auf der anderen Seite haben wir eine hohe und wachsende Arbeitslosigkeit. Eine Umverteilung der Arbeit auf mehr Personen wäre wichtig. Der dritte Aspekt ist die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Reduziert man für beide Geschlechter die Arbeitszeit deutlich, ist es leichter.

derStandard.at: Was schwebt Ihnen vor? 30 Stunden pro Woche als Regelarbeitszeit?

Flecker: Das wäre ein Ansatz, ja. 30 Stunden wären deswegen gut, weil die Benachteiligung durch Teilzeit weggebracht wird. Männer gehen runter, Frauen rauf. So ließen sich viele Probleme auf einmal lösen.

derStandard.at: Käme man mit diesen Löhnen dann überhaupt über die Runden?

Flecker: Die Löhne dürfte davon nicht beeinträchtigt werden, das hätte große Nachteile. Die Wirtschaft braucht den Konsum. Leute müssten mehr und nicht weniger verdienen.

derStandard.at: Die Reallöhne sind in den letzten Jahren zurückgegangen.

Flecker: Ja, über einen längeren Zeitraum. Deutlich gesunken ist auch die Lohnquote, also der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen. Es gab Verschiebungen in Richtung Gewinneinkommen und Einkommen aus Vermietung oder Verpachtung. Wenn man die Produktivitätssteigerungen als Maßstab nimmt, die stärker gewachsen sind als die Löhne, dann sieht man einen Verteilungsspielraum, den man für eine Lohnerhöhung nutzen könnte. In Form einer Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.

derStandard.at: Halten Sie eine Arbeitszeitverkürzung für ein realistisches Szenario?

Flecker: Politisch ist es derzeit nicht realistisch, nein. Nur notwendig wäre es, auch für die Teile der Wirtschaft, die stärker von der Inlandsnachfrage abhängig sind.

derStandard.at: Könnte es sich die Wirtschaft "leisten"?

Flecker: Das ist sehr davon abhängig, ob es auf europäischer Ebene umsetzbar ist. Was sich Österreichs Wirtschaft sicher leisten kann, ist die Arbeitszeit so zu verkürzen, wie es andere Länder in Europa bereits praktizieren. Mehr wäre sicher ein Wettbewerbsnachteil, es bräuchte Maßnahmen auf europäischer Ebene.

derStandard.at: Maßnahmen in Richtung Vereinheitlichung der Arbeitszeit nach unten?

Flecker: Ja.

derStandard.at: An welchem europäischen Land könnte sich Österreich jetzt schon orientieren? An Frankreich?

Flecker: Ja, Frankreich und Finnland liegen deutlich unter Österreich. Das Beispiel Frankreich mit der 35-Stunden-Woche hat gezeigt, dass es möglich ist, die tatsächliche Arbeitszeit mit einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf Gesetzes- oder Kollektivvertragsbasis nach unten zu bringen. Eine gesetzliche Regelung alleine garantiert das ja noch nicht. Es kann mehr Überstunden geben, oder es wird einfach nicht eingehalten.

derStandard.at: Das muss aber nicht zwangsläufig positive Auswirkungen auf die Arbeitslosenrate haben, wie am Beispiel Frankreich zu sehen ist?

Flecker: Da spielen viele andere Faktoren eine Rolle und die Verkürzung ist schon eine Zeitlang her. Aufgeweicht wurde die Regelung zum Beispiel mit einer Arbeitszeitflexibilisierung, die nächste Regierung hat mehr Überstunden zugelassen etc.

derStandard.at: Apropos Überstunden: In Österreich fallen pro Jahr 300 Millionen an. Müsste hier nicht angesetzt werden, indem sie teurer und damit unattraktiver gemacht werden?

Flecker: Die Überstunden sind in mehrfacher Hinsicht ein Problem. Im Hinblick auf die Umverteilung von Arbeit, viele arbeiten sehr lange, anderen fehlt es an Arbeit. Bei diesem Volumen könnte man ansetzen.

derStandard.at: Indem man sie verteuert?

Flecker: Ja, durch höhere Steuern oder sie zumindest nicht mehr begünstigt.

derStandard.at: Sie kommen zu dem Befund, dass prekäre Beschäftigungsverhältnisse in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Warum?

Flecker: Man kann es an der Qualifikation festmachen. Mittlerweile sind auch Höherqualifizierte von der Prekarisierung betroffen. Vor 20, 30 Jahren bot ein höheres Bildungsniveau noch Sicherheit im Erwerbsleben. Heute bedeutet ein Universitätsabschluss nicht automatisch, dass man eine sichere Beschäftigung bekommt. In einigen Branchen und im öffentlichen Dienst gab es durchgängig mit guter Bezahlung versehene Arbeitsverhältnisse. Durch Auslagerung und Leiharbeit gehen solche Jobs verloren. Das Normalarbeitsverhältnis wird durchlöchert, das geht in die Bereiche der Industrie, Facharbeit bis hin zu Höherqualifizierten.

derStandard.at: Ein Prozess, der erst in den letzten Jahren eingesetzt hat?

Flecker: Es ist nichts ganz Neues, nur sind neue Bereiche dazugekommen. Seit rund zehn Jahren sind öffentliche Dienstleistungen massiv davon betroffen, weil es zu Liberalisierung und Privatisierung kam. Und beim öffentlichen Dienst selbst wird immer mehr gespart. Aber auch in Banken, Versicherungen und den großen Industriebetrieben wird das ehemals gesicherte Normalarbeitsverhältnis immer mehr untergraben. In Österreich gab es diese Trennung zwischen einem hochflexiblen Arbeitsmarkt mit vielen Wechseln, etwa im Gastgewerbe oder der Baubranche, und einem sicheren Bereich wie dem öffentlichen Sektor, den Banken oder großen Industriebetrieben. Dieser Dualismus existiert zwar immer noch,  aber auch Beschäftigung im stabilen Bereich wird unsicherer.

derStandard.at: Mit welchen Konsequenzen für die Gesellschaft? Immer mehr Druck?

Flecker: Der Druck auf einzelne wird größer. Zu den Arbeitsbelastungen, die ohnehin etwa aufgrund hohen Zeitdrucks gegeben sind, kommt diese latente Unsicherheit des Arbeitsplatzes noch dazu. Das erhöht die psychischen Belastungen. Die sind schon heute zu einem Hauptproblem in der Arbeitswelt geworden.

derStandard.at: Trotzdem ist ein abgeschlossenes Studium nach wie vor fast eine Garantie gegen Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenquote unter Akademikern liegt unter drei Prozent.

Flecker: Natürlich haben Höherqualifizierte immer noch bessere Chancen am Arbeitsmarkt, weil sie auch Jobs annehmen können, für die sie ihre Ausbildung nicht unbedingt brauchen. Sie können andere verdrängen. Ein Teil dieser Beschäftigung spielt sich aber in schlecht bezahlten, unsicheren Jobs ab.

derStandard.at: Also nicht ihrer Qualifikation adäquat?

Flecker: Ja, dennoch haben sie klare Vorteile gegenüber schlechter Qualifizierten. Das darf man bei allen Diskussionen über die Generation Praktikum und die Probleme beim Berufseinstieg nicht vergessen.

derStandard.at: Kann man überhaupt von einer Generation Praktikum sprechen? Laut einer Studie absolvieren nur 13 Prozent nach der Uni noch ein Praktikum.

Flecker: In Österreich kann man nicht durchgängig von einer Generation Praktikum sprechen. Es konzentriert sich auf einzelne Bereiche, in denen Leute unbezahlt arbeiten und sich von Praktikum zu Praktikum hanteln, um im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das betrifft etwa Medien, die Kreativwirtschaft oder die Sozialwissenschaften.

derStandard.at: Die meisten Absolventen wünschen sich laut Umfragen ein Beschäftigungsverhältnis im öffentlichen Dienst. Gibt es einen Trend, der von der Privatwirtschaft wegführt, oder war das immer schon so?

Flecker: Das ist nicht neu, denn der öffentliche Dienst war immer schon ein wichtiger Arbeitgeber für Akademiker und Akademikerinnen, gerade in Wien. Die Aufnahmestopps waren dafür verantwortlich, dass es überhaupt zu Arbeitslosigkeit unter Akademikern gekommen ist, das war vorher unbekannt.

derStandard.at: Manifestiert sich in der Attraktivität des öffentlichen Dienstes der Wunsch nach sicheren Arbeitsplätzen?

Flecker: Für einzelne Professionen, beispielsweise Juristen oder Mediziner, ist der öffentliche Sektor generell enorm wichtig. Die Erwartung, dass es sich hier um einen sicheren Arbeitsplatz handelt, ist immer noch stark ausgeprägt, obwohl in vielen europäischen Ländern befristete Verträge, Leiharbeit und Freelancer im öffentlichen Sektor sehr verbreitet sind.

derStandard.at: Ein anderes Thema sind All-in-Verträge. Ein Viertel der Angestellten und fast 20 Prozent der Arbeiter haben bereits einen. Soll es Beschränkungen auf die Ebene der Führungskräfte geben?

Flecker: Wenn man eine Regelung hat, die Überstunden reduziert oder verteuern soll, dann sind All-in-Verträge natürlich eine Umgehung und stellen ein Problem dar. Entweder man macht die Arbeitszeit nach oben hin generell auf, oder man fängt es ein und zieht die Grenzen, die es im Gesetz und in den Kollektivverträgen gibt.

derStandard.at: Welche Position vertreten Sie? Plädieren Sie für eine Beschränkung?

Flecker: Im Sinne der Verkürzung von Arbeitszeit sollte man diese Öffnung eindämmen und nicht auf immer mehr Beschäftigte ausdehnen.

derStandard.at: Also All-in-Verträge zurück auf die Führungsebene?

Flecker: Ja, denn dafür waren sie einmal gedacht. (Oliver Mark, derStandard.at, 18.11.2013)