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Die Faulheit kann durchaus auch eine Tugend sein, wenn sie zum Innehalten und zur Erholung dient.

"Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft", sagte Gerhard Schröder. "Müßiggang ist aller Laster Anfang", sagt der Volksmund. "Ora et labora" (bete und arbeite) lautet seit Jahrhunderten der Grundsatz der Benediktiner.

Die Faulheit, eine der sieben christlichen Todsünden und sicher nicht die unbedeutendste, wird seit jeher verurteilt. Heute, in einer Zeit von Selbstoptimierung, Leistungsdruck und Konkurrenzdenken, ist sie verpönter denn je. Flexibel müsse man sein, rund um die Uhr erreichbar und ständig bei der Arbeit. Dabei sind Ruhe und Entspannung menschliche Grundbedürfnisse – der Philosoph Paul Lafargue hat 1880 sogar das Recht auf Faulheit proklamiert und damit den damals vorherrschenden ideologischen Begriff der Arbeit kritisiert.   

Acedia und Otium

"Die Faulheit des Herzens und des Geistes steht bei uns hoch im Kurs", sagt Konrad Paul Liessmann, Philosoph an der Universität Wien. Diese Trägheit (lateinisch Acedia, ursprünglich griechisch für 'Sorglosigkeit', 'Nachlässigkeit'), die auch von der katholischen Lehre verurteilt wurde, sei aber deutlich von der kontemplativ-konzentrierten Muße (lat. Otium) zu unterscheiden.

Bei der Muße nimmt man sich Zeit für sich selbst, um zur Ruhe zu kommen, Distanz einzunehmen und das eigene Leben zu reflektieren. Sich dieser kontemplativen Form des Nichtstuns hinzugeben kann durchaus anstrengend sein, weil es bedeutet, über sich selbst nachzudenken. Diese - heute selten gewordene - Form der Faulheit ist zu Unrecht in Misskredit geraten, wo sie doch nicht nur gesund, sondern auch ein Kreativitäts- und Produktivitätsfaktor sei, so Liessmann.

Vielmehr ist es unproduktive Trägheit, die ihm zufolge heute allgegenwärtig ist. Wir seien zwar in unserer Arbeitswelt hochaktiv, in unserer Wahrnehmungswelt aber äußerst passiv geworden. "Wir lassen uns von Eindrücken aller Art versorgen, von Nachrichten, Bildern, Musik, Kurzmitteilungen und Mails. Dieser Konsum ist größtenteils passiv - ein Akt des reinen Aufnehmens, ohne dass dafür Konzentration oder Eigenleistung notwendig wären", so Liessmann. Früher musste man seine Meinung wenigstens noch begründen, heute klickt man auf das Symbol eines erhobenen Daumens und die Sache ist erledigt, so der Philosoph.

Mehr Arbeit als je zuvor

Dass die Menschen heute grundsätzlich träger seien als früher, würde er aber nicht sagen – schließlich wurde noch nie so viel gearbeitet wie heute. Während es im Mittelalter neben den Sonntagen noch etwa 70 Feiertage im Jahr gab, sind es heute in Österreich nur mehr 13. Auch Sonntagsarbeit wäre vor der Industrialisierung noch undenkbar gewesen, so Liessmann. Und: der Rhythmus der meist ländlichen Arbeit wurde nicht von Maschinen, sondern von der Natur vorgegeben. In der Nacht war deshalb in der Regel Ruhe.

"Arbeit, die der unmittelbaren Produktivität und Kapitalverwertung dient, gibt es heute mehr als je zuvor. Wenn es aber um Faulheit im Denken, Unachtsamkeit und Trägheit geht, sind wir heute fauler als alle Menschen vor uns", sagt der Philosoph. 

Auch deshalb, weil wir viel mehr Instanzen hätten, die uns das Denken abnehmen. Noch nie gab es so viele Medien, Bilder und Freunde, die etwas gelikt oder nicht gelikt haben. Man muss kaum mehr nachdenken, denn überall existiert eine vorgegebene Möglichkeit zur Entscheidung und Bewertung, sagt Liessmann. Für alle Bereiche des Lebens steht der passende Berater zur Verfügung, sei es zur Wohnungseinrichtung, die eigene Diät oder das richtige Lernen in der Schule. Zieht man einen solchen zurate, steckt dabei aber meist nicht das Streben nach Perfektion, sondern reine Faulheit dahinter, so Liessmann.

Müdigkeitsgesellschaft

Während wir in der Arbeitswelt immer fleißiger werden, greift im Privaten also häufig eine grundsätzliche Trägheit um sich. Der koreanisch-deutsche Philosoph Byung-Chul Han konstatiert sogar, dass wir in einer Müdigkeitsgesellschaft leben. Ihm zufolge seien die Kehrseite der Produktivität immer kürzere Phasen der Erholung und Regeneration, sodass die Menschen zwar permanent aktiv, aber eben auch immer erschöpft und müde seien.

Ständig das Gefühl zu haben, unter Druck zu stehen, etwas zu versäumen, sich auf nichts mehr richtig einlassen und alles nur mehr flüchtig wahrnehmen zu können, kann umschlagen in den Zustand absoluter Passivität – hier wird die Faulheit zum Schutzmechanismus. Nicht selten mündet die ursächliche Überforderung in einer Depression oder im Burn-Out.

Vielfältige Ursachen

Im medizinischen Kontext spricht man freilich nicht von Faulheit, sondern von Antriebslosigkeit. Betroffene sind kaum zu motivieren und können sich für nichts begeistern, obwohl sie das oftmals gerne würden. Antriebslosigkeit ist Symptom vieler organmedizinischer, vor allem aber auch psychiatrischer Krankheiten, allen voran Depression und Burn-Out.

Aber etwa auch bei Soziophobie, Schizophrenie und Morbus Parkinson ist sie oft ständiger Begleiter. "Gerade bei diesen Erkrankungen sind es meist die Angehörigen, die davon berichten, weil die Betroffenen selbst oft kein Krankheitsbewusstsein haben", sagt Siegfried Kasper, Vorstand der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am AKH Wien.

Bei den organmedizinischen Krankheiten kann etwa eine Schilddrüsenunterfunktion, Leberstoffwechsel- oder Nierenfunktionsstörung die Ursache sein. Wichtig sei es, die Antriebslosigkeit ernst zu nehmen und bei längerem Bestehen abklären zu lassen, sagt Kasper: "Wie bei den meisten Symptomen kann es zu Problemen und Folgeerkrankungen kommen, wenn man die Antriebslosigkeit nicht rechtzeitig diagnostiziert."

Ob sie tatsächlich pathologisch ist, ist ihm zufolge eine Frage der Ausprägung. "Wenn sich jemand über zwei Wochen nur noch durch den Tag schleppt und im Vergleich zu früher deutlich müder ist, dann gilt die Antriebslosigkeit nach den internationalen Diagnosekriterien als klinisches Symptom", so Kasper. Therapiert wird immer die zugrunde liegende Erkrankung, im Falle von Depressionen also mittels Antidepressiva und/oder einer Psychotherapie.

Bedürfnis nach Ruhe

Dass der Mensch von Grund auf faul ist, glaubt Liessmann nicht: "Wir alle sind neugierige und aktive Wesen, die handlungsorientiert sind, genau deswegen aber auch ein großes Bedürfnis nach Ruhe haben." Schon der Biorhythmus, der ständige Wechsel von Schlaf und Wachphasen, deutet das an. Jeder Mensch brauche sowohl Erholung als auch Aktivität, entscheidend sei vielmehr deren Verhältnis und wie sie bewertet werden, sagt Liessmann.

Während Phasen der Antriebslosigkeit, die fast jeder im Leben einmal hat, früher nicht großartig ins Gewicht fielen, seien sie heute oft ein zunehmendes Problem, nicht nur medizinischer Natur, sagt Kasper: "Das Rad dreht sich immer schneller, weshalb man sich eine Antriebsminderung immer weniger leisten kann. Früher, als man noch in der Großfamilie zusammen gelebt hat, war das kein großes Problem - heute ist das anders, denn es wird weniger von der Gesellschaft akzeptiert."

Die Glorifizierung der Arbeit ist ein relativ junges Phänomen, das es erst seit dem Fortschreiten der Industrialisierung im 19. Jahrhundert gibt. In allen anderen Kulturen und Gesellschaften war es völlig klar, dass die des Menschen würdige Beschäftigung das Nichtstun ist - in Sinne, dass man sich mit den Dingen beschäftigen kann, die einen gerade interessieren, sagt Liessmann.

So verweist er auf die Aristokraten des europäischen Mittelalters, die gejagt, Kunst gesammelt und Kriege geführt haben, nicht aber gearbeitet im klassischen Sinne. Auch der Bürger der griechischen Polis hat nicht gearbeitet, sondern Politik gemacht, philosophiert, geforscht oder gedichtet  – all dies aber nicht als Arbeit verstanden. Arbeit wurde verachtet und an die Sklaven delegiert.

Beziehungs- und Erholungsarbeit

Heute hingegen ist es umgekehrt - wir hätten das Modell von Arbeit auf alle anderen Lebensbereiche übertragen, sagt Liessmann: "Früher hat man geliebt, heute leistet man Beziehungsarbeit. Mittlerweile wird sogar schon Schlaf als Erholungsarbeit bezeichnet, die man möglichst effizient erledigen muss – das ist doch absurd."

Man müsse sich wieder auf das Wesentliche im Leben konzentrieren und dürfe nicht vergessen, dass es auch noch andere erfüllende Tätigkeiten als ausschließlich die produktive Arbeit gibt, sagt Liessmann. Denn immerhin haben wir ja die Maschinen und die Technik erfunden, um uns vom Fluch der Arbeit zu befreien.

Er plädiert, wie einst Paul Lafarge, auf das Recht auf Faulheit - im Sinne von Erholung, Muße und Innehalten: "Als Pause, im besten Sinne des Wortes, ist die Faulheit eine Tugend. Als Trägheit des Denkens, als Achtlosigkeit und Rücksichts- losigkeit, ist sie ein Laster." (Florian Bayer, derStandard.at, 15.11.2013)