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Von Aufnahmeprüfungen an Gymnasien hält Bildungsexpertin Christiane Spiel nur wenig. Warum Sie den Vorschlag der ÖVP problematisch findet und warum die Bildungspolitik ideologisch überfrachtet ist, erzählte sie Marie-Theres Egyed.

derStandard.at: Es gibt hartnäckige Gerüchte, dass die ÖVP sich in den Bildungsverhandlungen mit einer Aufnahmeprüfung für die AHS durchsetzen könnte: Was sagen Sie dazu?

Spiel: Man sollte bei derartigen Vorschlägen auch immer alle Konsequenzen gut durchdenken. Wir haben jetzt schon Probleme, die durch eine Aufnahmeprüfung noch verstärkt würden. Heute entscheiden die Noten in der vierten Klasse Volksschule, ob ein Kind in eine AHS oder in eine Hauptschule kommt. Das erzeugt einen großen Druck, insbesondere auf die Kinder, aber auch auf Lehrer. Es geht sogar so weit, dass Eltern mit Rechtsmitteln drohen. Ich habe den Eindruck, dass man manchmal aus dem Hut Maßnahmen zaubert, die eben nicht konsequent durchgedacht werden. Konkret muss man sich fragen, welche Gefahren Aufnahmeprüfung und Zugangsbeschränkung für Gymnasien mit sich bringen und welche Nebenwirkungen auftreten können.

derStandard.at: Welche Konsequenzen meinen Sie?

Spiel: Es würde noch mehr Druck auf die Kinder entstehen. Sie müssten auf den Test hinlernen, damit sie ja diese Aufnahmeprüfung schaffen, was - wenn die Plätze beschränkt sind - noch bedrohlicher ist.

derStandard.at: Schule soll auch ein integrativer Ort sein: Welche Konsequenzen hätten Elitegymnasien für die Gesellschaft?

Spiel: Wir wollen, dass jedes Kind die gleichen Chancen hat, dass es seine Potenziale entwickeln kann und diese gefördert werden. Wenn wir spezielle Eliteschulen haben, werden sich diese sehr stark von Neuen Mittelschulen unterscheiden wollen. Es wird damit viel schwieriger, in diese Schulen zu kommen. Auch die Durchlässigkeit wird geringer. Es wird schwerer, später in ein Gymnasium zu wechseln. Das ist die Konsequenz, wenn wir nur ganz wenige Gymnasien haben.

derStandard.at: Ist der Vorstoß der ÖVP bildungspolitisch ein kluger Ansatz?

Spiel: Nein, ich halte das für problematisch, nicht nur wegen der Kinder. Es geht schon jetzt weniger darum, dass es toll ist, etwas zu lernen, sondern mehr um Zwang und Noten. Wenn etwas so stark mit Druck verbunden ist, verdirbt es sehr viel an natürlicher Neugier. Alles, was wir im Schulsystem verändern, muss den Kindern dienen: dass sie besser lernen können, dass sie mehr Freude dabei haben und dass wir bessere Ergebnisse erzielen. Das sollte aber alle Kinder umfassen, nicht nur spezifische Gruppen.

derStandard.at: Hemmt Leistungsdruck die Freude am Lernen?

Spiel: Man würde bei Kindern mit zehn Jahren eine noch größere Zäsur machen, als wir sie ohnehin jetzt schon haben. Es stellt sich auch die Frage, was bei einer solchen Prüfung getestet werden kann. Vermutlich würden primär die Hauptfächer herangezogen werden, weil es da Leistungsstandards gibt. Eltern mit höherer Bildung können ihre Kinder besser darauf vorbereiten.

derStandard.at: Die ÖVP verkauft das als "langfristige Potenzialanalyse". Sind Eignungsprüfungen für Zehnjährige aussagekräftig?

Spiel: Interessen und Neigungen bilden sich zu einem großen Teil erst später heraus. Im Alter von zehn Jahren kennen die meisten die eigenen Kompetenzen und Stärken noch nicht gut. Wenn ein Kind neugierig ist, gefallen ihm ganz viele Sachen, und es weiß noch nicht, dass ihm beispielsweise Mathematik besonders liegt. Eine Entscheidung mit zehn Jahren ist wahnsinnig früh. Die Bildungsanalysen im nationalen Bildungsbericht zeigen, dass frühe Entscheidungen massive Konsequenzen für später haben, und zwar zum Nachteil von Kindern aus bildungsfernen Familien.

derStandard.at: Welche Folgen meinen Sie?

Spiel: Nur ein sehr kleiner Teil der Hauptschüler wechselt ins Gymnasium und schließt mit Matura ab. Und auch jetzt werden viele Entscheidungen nicht aufgrund der Leistungen getroffen, sondern von den Eltern selbst. Wenn so eine Aufnahmeprüfung freiwillig wäre, würden vermutlich vor allem Eltern mit höherem Bildungsgrad ihre Kinder diese machen lassen. Man muss sich aber überlegen, was das für alle Kinder und deren Zukunft bedeutet. Die höchste Arbeitslosigkeit haben Menschen mit niedriger Bildung. Wir brauchen aber nicht eine kleine Elite, sondern ganz viele neugierige Menschen mit hoher Lern- und Arbeitsmotivation.

derStandard.at: Die Debatte ist stark von ideologischen Argumenten geprägt. Wie könnte ein Kompromiss aussehen?

Spiel: Der ganze Bildungsbereich ist ideologisch überfrachtet. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Veränderungen im Bildungssystem furchtbar lange brauchen, bis sie sichtbar werden und Wirkungen nicht so eindeutig sind wie zum Beispiel im Technik- oder Medizinbereich. Wenn wir jetzt eine neue Kindergartenpädagoginnen-Ausbildung machen würden, dauert das zehn Jahre, bis sie wirkt. Aber auch die Politiker stehen unter großem Druck, erfolgreich zu sein. Maßnahmen im Bildungsbereich können sie nicht leicht als sichtbaren Erfolg verkaufen. (Marie-Theres Egyed, derStandard.at, 12.11.2013)