Stadion Śląski, das Schlesische Stadion in der Industriestadt Chorzów, ist der berühmteste Fußballtempel des Landes - doch ein missglückter Umbau setzt seine Zukunft aufs Spiel.

Prolog

"Ich glaube, in der Geschichte jeder nationalen Auswahl gibt es ein ganz besonderes Spiel, auf das immer wieder verwiesen wird. Eine Art Mythos. Für die Polen ist das ein Spiel gegen die Sowjetunion aus dem Jahr 1957. Damals war es so, dass auch in Polen nach dem Ende des Stalinismus ein politisches Tauwetter eingesetzt hatte. Bei dieser Begegnung in Chorzów durften die polnischen Anhänger zum ersten Mal ihre Nationalhymne singen. 100.000 Menschen im Schlesischen Stadion! Ein sehr emotionaler Moment. Und dann hat die polnische Mannschaft auch noch 2:1 gewonnen. Man hat die Spieler auf den Schultern vom Platz heruntergetragen. Das sind bis heute Helden."

Die Partie, auf die sich Stefan Szczepłek, Altmeister der polnischen Sportjournalistik, hier bezieht, brachte auch für den Austragungsort selbst eine immense Bedeutungsaufladung. Eine mythologische Handauflegung, sozusagen. Und um das Stadion Śląski (sprich in etwa: "Schlonski") soll es hier schließlich gehen. Es liegt in der Stadt Chorzów, fast genau dort wo diese ins benachbarte Katowice (Kattowitz) übergeht - also mitten im oberschlesischen Industrierevier, einer Agglomeration von heute fast 4,7 Millionen Einwohnern.

Nur ein Jahr bevor der große Lew Jaschin die russische Mannschaft mit so mancher Parade vor einer höheren Niederlage gegen die Polen bewahrt hatte, war das Stadion 1956 eröffnet worden. Rasch wurde es, obwohl fernab der Hauptstadt Warschau, zur bevorzugten Heimat der polnischen Reprezentacja - ein Nimbus, den der Fußballverband (PZPN) 1993 mit der offiziellen Ernennung zum Nationalstadion endlich offiziellen Anstrich verlieh.

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Aus Kriegsschutt erstanden, war es als klassisches olympisches Oval konzipiert worden. Mächtige Erdwalltribünen mit Holzbänken ragten in einen Hügel hinunter, von sozialistischen Architekten offenbar heißgeliebte, oft groteske Dimensionen annehmende Flutlichtbatterien in den Himmel hinauf. Um das Spielfeld: die Aschenbahn für Speedwayrennen (seit 1971). Dach selbstverständlich keines, Zuschauerkomfort war in dieser Zeit keine vorrangige Kategorie. Außerdem hätte ein Deckel oben drauf der Inszenierung der Masse, in totalitären Systemen kultisch gehuldigt, wohl zu sehr in die Perspektive gegrätscht. Um das Stadion herum erstreckte sich damals wie heute der Schlesische Kultur- und Erholungspark, mit einer Fläche von 620 Hektar einer der größten seiner Art in Europa. Dort kann man sich seiner Muße bei einer Bootsfahrt auf künstlichen Teichen, im Tiergarten oder auch beim Besuch des (gegenwärtig allerdings verrammelt und verlassen daliegend) Lunaparks recht angenehm entledigen.

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Oberschlesien, die zwischen Deutschland und Polen lange umstrittene Region, ist nicht nur industrielles Zentrum. Auch das Herz des polnischen Fußballs schlägt in ihren Städten, wo Hässliches und Schönes, Biedermeierliches und Brutales, Alt und Neu oft ganz unvermittelt nebeneinander stehen. Vereine wie die Ex-aequo-Rekordmeister Górnik Zabrze und Ruch Chorzów dominierten über Jahrzehnte die Szene. (1934 und 1935 wurde Ruch zu zwei seiner insgesamt 14 Titel vom Wiener Trainer Guggi Wieser dirigiert, der in seiner aktiven Karriere Kanonier vom Dienst sowohl bei Rapid, als auch beim Austria-Vorläufer Amateure gewesen war.)

26 von 42 möglichen Meisterschaften gingen in der Zeit der kommunistischen Volksrepublik (1944 bzw. 1952 bis 1989) an oberschlesische Mannschaften, die für große Spiele immer wieder das Śląski in Beschlag nahmen. 1968/69 kamen nicht weniger als sechs der besten acht Teams in der Abschlusstabelle aus der Agglomeration: Górnik (was natürlich nichts anderes bedeutet als: Bergmann), Polonia Bytom, Szombierki, Sosnowiec, Ruch und GKS Katowice.

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Arbeiter aus Minen und Stahlkochereien stellten die leidenschaftliche Anhängerschaft - wahrlich kein Opernpublikum. In seiner Biografie ruft Bobby Charlton lebhaft die Erinnerung an die hitzige Atmosphäre im Kocioł Czarownic, dem Hexenkessel, wach. 1968 mit Manchester United unterwegs zum Gewinn des Meistercups, musste er sich im Viertelfinale auf Schneeboden im Śląski einer anstürmenden Zabrze-Elf erwehren. Eine 0:1-Niederlage gegen die Kumpel reichte aber zum Weiterkommen. 1973 klangen den Engländer nach einem 0:2 in der WM-Qualifikation gegen die große polnische Elf unter Teamchef Kazimierz Górski erneut die Ohren. Diese sollte bei der Endrunde in Deutschland den dritten Platz erreichen - und hätte wohl noch mehr in sich gehabt.

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Wie die Österreicher sagen die Polen Mätsch zum Spiel, sie schreiben es nur ein bisschen anders. Und ausgerechnet zu einem Mecz gegen die Wiener Austria sind so viele Leute ins Schlesische Stadion gekommen, wie nie davor und auch nie mehr danach. 120.000 verwandelten den eigentlich für 33.000 weniger ausgelegten Kessel in eine Sardinenbüchse. Im September 1963 war das, als Górnik die Gäste aus Wiedeń 1:0 besiegte und aus dem Europacup schmiss. "Stadion Śląski, das ist ein Tempel, eine Legende. Für die Polen bedeutet es das selbe wie Wembley für die Engländer", sagt Sebastian Czapliński, Journalist bei Ekstraklasa.net.

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Heute ist das alles weit weg. Heilige Ruhe herrscht um das Stadiongelände, an dem am Wochenende bestenfalls Grüppchen von Spaziergängern vorbeiflanieren. Oder so vorwitzig sind, sich auf die Sesselbahn zu wagen, mit der das Śląski in grandioser - und wohl ziemlich einzigartiger Weise ergondelbar ist. In eleganter Direttissima über die Parklandschaft hinweg, wenn auch ohne die Überwindung eines einzigen Höhenmeters. Es war der 28. Oktober 2009, an dem alles anders wurde. An diesem Tag nämlich, wurde mit einer feierlichen Zeremonie der Beginn von Modernisierungsarbeiten inszeniert. Das grandiose Motto: "Überdachung der Tribünen und Investition in unentbehrliche technische Infrastruktur des Schlesischen Stadions".

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Nicht, dass so eine Heranführung des etwas aus der Zeit gefallenen Dinosauriers an die Gegenwart völlig aus der Luft gegriffen gewesen wäre. Bereits 1993, als es während eines erneuten WM-Quali-Duells zwischen Polen und England auf den Rängen zu unliebsamen Vorfällen kam, hatte die FIFA das Stadion zeitweilig gesperrt. Und noch viel wichtiger: Polen war inzwischen zum Co-Veranstalter der Europameisterschaft 2012 erkoren worden. Das Wembley von Schlesien sollte für das erste Turnier dieses Kalibers in Ost-Mitteleuropa selbstverständlich gerüstet sein.

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Vier Jahre später aber scheint man von einer Fertigstellung der Arbeiten weiter entfernt denn je. Statt einer pulsierenden Baustelle entpuppt sich das Stadion-Areal als gottverlassene, doch immerhin ziemlich wasserdicht verrammelte Brache. Der Torso des Baukörpers wird überragt von der skelettösen Silhuette eines doppelten Stahlrings, an dem eigentlich schon lange ein Dach sich entfaltet haben sollte. Aber genau hier liegt im vom deutschen Architekturbüro gmp geplanten Projekt der Hase im Pfeffer.

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Die Vision: "Die in ihrer Grundstruktur unterschiedlichen Baukörper der alten und neuen Tribünen werden über eine ovale Dachkonstruktion zu einem homogen erscheinenden Großraum zusammengeführt. Das transluzente Dach ist mit 43.000 Quadratmetern nicht nur das größte Stadiondach Europas – es erhält durch seine leicht anmutende Seiltragwerkskonstruktion ausserdem den Charakter des Freiluftstadions." Die Realität: Verbindungselemente, die das Stahlseilgeflecht halten sollten, brachen bei einer ersten Hebeoperation im Sommer 2011.
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Aus Sicherheitsgründen geht seither gar nichts mehr. Experten äußerten sich und zogen Schlüsse. Stichtage und Fristen kamen und gingen. Zeitrahmen wurden mehrfach arg überspannt. Eine EM wurde gespielt. Nicht unschuldig am Verzug: die als Bauherr auftretende Woiwodschaft Schlesien. Nachdem endlich feststand, dass ein Planungsfehler vorlag, konnte sie sich nach langer Nachdenkphase erst im Frühjahr dieses Jahres zu einer Entscheidung über die weitere Vorgangsweise durchringen. Welche heißt: Neuplanung bis Ende 2013, ein Dach bleibt das Ziel.

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Indessen begannen die auftragnehmenden Baufirmen die Geduld zu verlieren, nachdem ihnen zwei Jahre lang Zeit- und Materialverschwendung zugemutet worden war. Kompensation wurde verlangt. Das Tauziehen endete damit, dass die theoretische Baustelle nun inventarisiert und geräumt wird. Wonach eine Neuausschreibung erfolgen wird. Irgendwann im ersten Halbjahr 2014 ist dann mit einer Neuaufnahme der Arbeiten zu rechnen. Womöglich. Avisierter Fertigstellungshorizont des Projekts nunmehr: 2016. Vielleicht. 

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Die ursprünglich veranschlagten Kosten von 102 Millionen Złoty (rund 24 Mio. Euro) haben sich selbstredend längst als Makulatur erwiesen, auch Untätigkeit kann teuer werden. Czapliński steckt derStandard.at eine nunmehr prognostizierte Summe von 590 Millionen Złoty (140 Mio. Euro) als finalen Batzen. Inwiefern sich diese erneut als von kaffeesudhafter Beschaffenheit erweisen wird, bleibt abzuwarten. Und wie sinnvoll ist es überhaupt, Riesensummen in einem Prestigeprojekt zu versenken, während gleichzeitig bei den stolzen oberschlesischen Klubs längst Schmalhans Küchenmeister ist? Hier, etwa durch Investitionen in ihre marode Infrastruktur, hätte sich wohl ein Ansatzpunkt für nachhaltigere Impulse geboten.

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Auf der dem Geldfluss zugewandten Seite erweist sich der boomende Sportstättenbau aber natürlich als Goldgrube. Auch gmp ist, Dank sei der Ära der Großmannssucht, gut im Geschäft. In Brasilien ist das Büro an drei Standorten zugange: Manaus (Arena da Amazônia), Belo Horizonte (Estádio Mineirão) und Brasília (Estádio Nacional). In Südafrika stellte man bereits 2010 drei Weiße Elefanten in die Landschaft (Kapstadt, Durban, Port Elizabeth). So weit soll es in Chorzów aber nicht kommen. Czapliński: "Das Stadion Slaski ist ein Nationalheiligtum. Es darf nicht verschwinden." Ob aber Robert Lewandowski, aktueller polnischer Fußballheld, dessen jeweils neueste Fischzüge im Dortmund-Dress brühwarm über die Info-Bildschirme der Kattowitzer Tramways fließen, je mit den Kollegen von der Reprezentacja im Śląski ballestern wird, ist höchst fraglich.

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Denn während in Chorzów das Schlamassel regiert, wurde in Warschau zügig finalisiert: Am Ufer der Weichsel steht nun ein schmucker Weidenkorb und der PZPN transferierte das Prädikat "Nationalstadion" flugs in die Hauptstadt. (Ein Affront, den die Schlesier mit der Modifikation der farblichen Gestaltung ihrer zukünftigen Arena zu kontern wussten: regionales Blau-Gelb soll es nun werden, statt des vorgesehenen nationalen Rot-Weiß.) Die staatlichen Autoritäten würden es eben lieber sehen, wenn das Nationalteam in der Hauptstadt antritt, mutmaßt Czapliński. Doch was bleibt dann noch für das Śląski? Das ein oder andere Cupfinale? Die EURO 2020? Auch die angedachte Übersiedlung von Ruch, mit seinem Zuschauerschnitt von weniger als 6000, in eine Arena von 55.000 Plätzen erscheint nicht als Weisheit letzter Schluss. Und so sehen wir betroffen, den Vorhang zu und viele Fragen offen. (Michael Robausch, derStandard.at - 18.11. 2013)

 
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