Richard Cohen, ein Top-Kolumnist der Washington Post, übertitelte kürzlich einen Beitrag über Obama mit "A ques­tion of competence"  – und die Antwort fiel nicht positiv aus.

Andere sehr prominente liberale Kolumnisten drücken schon länger ihre Zweifel am einstigen Superstar Obama aus: Er sei ein glänzender Redner, aber kein starker Leader. Er liebe die große Vision, setze sie aber nicht um, weil ihm das notwendige Handwerk zu minder sei.

Der Spiegel schreibt über Merkel: "Die Kanzlerin hält den US-Präsidenten für überschätzt, für einen Politiker, der viel redet, wenig tut und auch noch unzuverlässig ist."

In der Erwartung vor allem sehr vieler Europäer hätte Obama doch die anderen, "besseren" USA schaffen sollen, aber nun hat er Guantánamo nicht zugesperrt, unterschreibt reihenweise Drohnenangriffe, bei denen auch Zivilisten sterben, und präsidiert über exzessives Abhören von Freunden. Das vor dem Hintergrund, dass für viele, vor allem junge Menschen die USA schon lange eher kein Modell mehr sind. Die Tatsache, dass sie Europa von den Nazis befreit und vor der sowjetischen Diktatur beschützt haben, ist schon halb in der Geschichte verschwunden. Übrig bleibt, dass Barack Obama kein George W. Bush und der erste schwarze Präsident ist. Daraus hat er für sehr viele zu wenig gemacht.

In der Tat: Guantanamo gibt es nach wie vor, die Waffen­gesetze sind verrückt wie eh und je, die Finanzspekulation ist ungefesselt, seine Gesundheitsreform eine Halbheit. Seine ambitionierten weltpolitischen Ansätze sind verschrumpelt: Netanjahu baut weiter seine Siedlungen, Ägypten fällt auseinander, China spielt den asiatischen Hegemon, weil Obama wegen des "Shutdown" zu Hause bleiben muss.

Außenpolitisch kann man aber seine Zurückhaltung auch als weise Erkenntnis sehen: indem er nicht auf das "Bomb Iran!" der Rechten einstieg, eröffnete er die Chance einer Verhandlungslösung mit der neuen iranischen Führung; indem er greise Diktatoren wie Mubarak nicht zu halten versuchte (was ihm die Saudis übelnehmen), ließ er einer gefährlichen, aber eben unvermeidbaren Umwälzung im arabischen Raum ihren Lauf. Indem er sich in Syrien auf einen von Putin gesponserten Kompromiss einließ, vermied er noch einen aussichtslosen Krieg in noch einem muslimischen Land.

Fakt ist trotzdem, dass die USA auch unter Obama eine ziemlich rücksichtslose, ziemlich egoistische, ziemlich paranoide Supermacht geblieben sind. Das ist etwas enttäuschend, aber andererseits: Wen hätten wir lieber als hegemonialen Verbündeten: Putin? China? Und wie wäre wohl eine Welt, in der alle Fanatiker ungecheckt Amok laufen dürften?

Die Abhörwut ist ein Ergebnis von und eine Überreaktion auf den Schock von 9/11. Die USA denken aber nach wie vor im Kern demokratisch und auch im Kontext der Menschenrechte. Obama scheint die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten und jener der USA zu erkennen. Das muss wohl genügen. Desillusionierung ist schmerzlich, Realismus ist angesagt. (DER STANDARD, 2.11.2013)