Familientherapeut, Autor und derStandard.at-Kolumnist Jesper Juul.

Foto: Family Lab

Diese Serie entsteht in Kooperation mit Family Lab Österreich.

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Wir alle werden mit einem hohen Maß an persönlicher Autorität geboren. Von Anfang an drücken wir mit großer Selbstverständlichkeit unsere Wünsche, Bedürfnisse und auch Grenzen im Zusammensein mit anderen aus – und das schon ab einem Alter von vier Monaten. Erst später lernen wir uns selbst infrage zu stellen und uns schuldig für unsere Wünsche zu fühlen.

Natürlich ist das nicht ganz wahr. Denn wir machen einfach das, was wir von Natur aus können, auch wenn wir diese Fähigkeiten schnell verlieren können, je nachdem wie unsere Eltern sich uns gegenüber verhalten.

Um persönliche Autorität zu entwickeln, braucht es ein Mindestmaß an Selbstwert. Deshalb möchte ich ganz kurz den Begriff Selbstwert definieren, der aus zwei Komponenten besteht:

  1. Wie gut kenne ich mich selbst? Mein inneres und äußeres Verhalten, meine Gefühle, meine Werte und meine persönlichen Grenzen. Diese Komponente entwickelt sich das ganze Leben lang. Das Tempo hängt davon ab, wie mein Umfeld mit mir interagiert.
  2. Wie stehe ich in Bezug auf moralischer und gefühlsmäßiger Hinsicht zu mir, mit dem, was ich über mich selbst weiß? Diese Komponente hängt gänzlich davon ab, wie meine Eltern und erwachsene Bezugspersonen mit mir interagieren.

Kinder kooperieren mit der vollen Überzeugung, dass ihre Eltern sie lieben, und übernehmen die elterliche Haltung ihnen gegenüber an, egal ob diese von Annerkennung (die optimale Voraussetzung), Lob und Tadel, Moralisierung, Verurteilung, physischer oder psychischer Gewalt geprägt ist.

Ein gesunder Selbstwert ist dadurch zu erkennen, dass man ein nüchternes, nuanciertes und akzeptierendes Verhältnis zu sich selbst – sowohl im Guten als auch Bösen – hat. Oder vielleicht, anders ausgedrückt, zu wissen, die gleiche Existenzberechtigung wie alle alle anderen Menschen auf dieser Welt auch zu haben.

Wenig Selbstwert

Es liegt in der Geschichte der Erziehung, dass die meisten Menschen über 30 Jahre lang wenig Selbstwert und dadurch auch wenig Selbstrespekt oder die Fähigkeit, sich selbst ernst zu nehmen, entwickelt haben. Auf dieser Basis ist es natürlich schwierig, den Respekt anderer zu bekommen und von anderen ernst genommen zu werden. Das waren Zeiten, in denen Rollen eine wichtige Art der Kompensation darstellten und damit auch das damit verbundene Recht, andere, weniger mächtige Menschen (sowohl Kinder als auch Erwachsene) zu bestrafen und demütigen zu können. Das war ein selbstverständlicher Teil der patriarchischen Machtstruktur. Ihre Opfer waren in erster Linie natürlich Frauen und Kinder, die zwar gesehen, aber nicht gehört wurden.

Immer noch haben insbesondere Frauen Schwierigkeiten damit, sich selbst ernst zu nehmen – vor allem in Liebesbeziehungen. Obwohl in vielen Familien und pädagogischen Einrichtungen die Frauen die Macht übernommen haben, wo nun die Buben zu neuen Opfern werden.

Nach einem meiner Vorträge wurde ich von einer Mutter Folgendes gefragt: "Ich habe drei Kinder – eine Tochter von vier Jahren und zwei Söhne, jeweils sechs und neun Jahre alt. Ständig wetteifern sie um meine Aufmerksamkeit und streiten sich deswegen auch untereinander. Mein Mann reist sehr viel, und ich arbeite halbtags. Ich bin so erschöpft, dass ich nicht mehr weiter weiß. Wie bringe ich meine Kinder dazu, dass sie mit dem Streiten um mich aufhören und ich endlich ein bisschen Luft habe?"

Meine Antwort darauf war, dass sie damit anfangen sollte, sich selbst ernst zu nehmen, nämlich ihre persönlichen Bedürfnisse, Grenzen und Limits. Sie schüttelte den Kopf, wohingegen ihre Freundin, die neben ihr saß, ganz eifrig nickte. "Was würden Sie denn vorschlagen?", fragte mich die Mutter.

Ich gab ihr folgende Antwort: "Wenn Sie heute Abend nach Hause kommen ist es womöglich 23 Uhr. Wecken Sie Ihre Kinder auf und sagen Sie ihnen, sie sollen doch bitte ins Wohnzimmer kommen. Wenn Sie dann alle gemeinsam im Wohnzimmer sitzen, dann schauen Sie Ihren Kindern in die Augen und sagen: Meine Liebe gehört mir, und ich verteile sie so, wie ich will. Meine Aufmerksamkeit gehört mir, und ich verteile sie so, wie ich will. Meine Energie gehört mir, und ich nutze sie so, wie ich will. Gute Nacht und schlaft gut!"

Obwohl mein Vorschlag in ihr tiefes Verständnis auslöste, war sie dennoch schockiert. Sie könne doch ihre Kinder nicht mitten in der Nacht aufwecken. Was, wenn sie sich dann abgewiesen fühlen? Was ist, wenn sie mich hassen? Und kann ich so egoistisch sein?

Falsches Verständnis

Es war mir völlig klar, dass ich mit meinem Vorschlag gegen die Unterdrückung, Selbstunterdrückung und ein über Generationen geprägtes falsches Verständnis von wirklicher Mutterliebe kämpfte. Ich konnte ihr also nur anbieten, über meinen Vorschlag nachzudenken. Zwei Wochen später bekam ich eine E-Mail: "Ich wusste, dass Ihr Vorschlag richtig war, aber ich hatte sehr viele Bedenken. Es hat deswegen eine ganze Woche gedauert, bis ich mich traute. Allerdings weckte ich die Kinder nicht auf. Ich rief sie vor dem Schlafengehen des jüngsten Kindes zusammen und sagte, was Sie mir vorgeschlagen hatten. Zuerst waren die Kinder still, dann aber kam der älteste Sohn und umarmte mich ganz lange und fest. Die zwei anderen Kinder kamen nach, und zu meiner großen Überraschung waren wir alle erleichtert und glücklich. Seitdem sind sie viel rücksichtsvoller und lassen mich nachmittags sogar für eine halbe Stunde in Ruhe, damit ich zum Beispiel lesen kann."

Eine Mutter, die 24 Stunden zur Verfügung steht und darunter leidet, ist nicht glaubwürdig. Sie hat sich einer archetypischen Rolle unterworfen, mit der niemand Freude hat. Nun hat sie die Freiheit, mehr über sich zu erfahren und das auch ihren Kindern zu ermöglichen. Nun kann sie Charakter zeigen. Wenn sie dies nicht macht oder wieder darauf vergisst, werden ihre Kinder sie mit ihrem Verhalten daran erinnern.

Viele von uns erleben diese Krisen in Beziehungen mit unseren Kindern, Partner, Eltern. Oder wir fühlen uns im Job ausgebrannt, bevor wir den Mut haben, wieder zu uns und zu dem zu finden, was uns wirklich wichtig ist.

Wenn uns das gelingt, ändert sich unsere Ausstrahlung, und andere Menschen verhalten sich uns gegenüber plötzlich ganz anders. Nun ist das erste Stockwerk der persönlichen Autorität gebaut, und alles andere werden wir mit weniger Schmerz und weniger moralischen Skrupel erfahren.

Ich habe diesen Prozess bei unzähligen Menschen immer wieder beobachtet und begleitet, die sich als Opfer dominanter Kinder, anspruchsvoller Eltern, kränkender Kollegen oder kontrollierender Mütter gesehen haben. Unsere eigenen Kinder sind die Ersten, die uns herausfordern und darauf aufmerksam machen, uns selbst ernst zu nehmen.

Ein wirkliches Geschenk

Es ist ein wirkliches Geschenk von ihnen an die unter uns, die niemals gesehen wurden, niemals gelernt haben, Nein zu sagen, und sich stattdessen hinter Rollen versteckt haben, ein Ego kultiviert haben, anstatt sieselbst zu sein. Sie tauschten Kontakt und Nähe mit Machtausübung und Missgunst. Wir müssen nicht perfekt oder besonders nett sein, um unsere Existenz zu rechtfertigen – nur wir selbst. Das ist es, was unsere Kinder und auch andere uns versuchen zu sagen, wenn wir sie als extrem unmöglich, total lästig und extrem provokativ erleben.

"Wir wollen nicht, dass du uns etwas vorspielst!", meinen sie damit: "Wir wollen dich in echt!"

Niemand sollte eine Kränkung einfach hinnehmen, auch nicht von Kindern oder Jugendlichen – aber die Idee, sie würden damit aufhören, ohne dass wir Erwachsene uns als Menschen entwickeln, ist eine Illusion. Die Zeit, in der wir unsere Führung allein auf Macht aufbauen konnten, ist vorbei. Genauso verhält es sich mit der Macht, zu bestrafen oder zu belohnen.

Ihr Kind braucht persönliche Autorität – womöglich viel mehr, als Sie glauben, dass sie diese brauchen. Es ist die beste Prävention der Welt, aber auch ein sehr wichtiger Faktor in Ihrer Beziehung, wenn eine Krise auftritt. Außerdem wird es Ihre anderen Beziehungen bereichern, wenn sie wächst. Es hat mich in etwa 50 Jahre gekostet, um meine zu entwickeln. Zum Glück sind nicht alle so dickköpfig wie ich!  (Jesper Juul, derStandard.at, 3.11.2013)