Peter Hacker sieht keine ungarischen Verhältnisse in Österreich: "Das, was in Ungarn passiert, ist Zynismus auf höchstem Niveau."

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STANDARD: Warum wird an der fast 30-jährigen Kampierverordnung festgehalten?

Hacker: Bis auf ein paar wenige will niemand daran rütteln. Für einen Nichtjuristen liest sich die Verordnung natürlich komisch. Faktum ist, dass wir mit der Thematik anders umgehen wollen. Die Kommunikation hat im Falle der Obdachlosen im Stadtpark einfach nicht funktioniert. Für die Polizei war das an sich keine große Aktion, aber sie wurde so wahrgenommen. Unser Ziel ist es, dass es soziale Maßnahmen gibt. Das hat nicht funktioniert und ist ärgerlich.

STANDARD: Ist es nicht zynisch zu sagen, komische Sätze stehen in der Kampierverordnung? Es geht um Menschen, die Strafen bezahlen müssen, die sie sich nicht leisten können.

Hacker: Ja, aber die Kampierverordung gilt für Sie und für mich auch. Da steht nicht drinnen: Maßnahmen gegen Obdachlosigkeit. Die Kampierverordung ist eine der vielen Regeln des Zusammenlebens in der Stadt für alle.

STANDARD: Wird sie missbräuchlich verwendet?

Hacker: Nein, wird sie nicht. Wenn ein Obdachloser bei Rot über die Straße geht, kriegt er einen Strafzettel. Sie können dann auch nicht sagen, die Polizei missbraucht die Straßenverkehrsordnung.

STANDARD: War der Fonds Soziales Wien über den Einsatz informiert?

Hacker: Nein, eben nicht. Das ist das, was so ärgerlich ist.

STANDARD: Bezirksvorsteherin Ursula Stenzel hat drei Wochen vor dem Polizeieinsatz eine Anfrage beim FSW zu den Obdachlosen im Stadtpark gestellt. Wurde hier auf Druck von Innenstadtpolitikern gehandelt?

Hacker: Das gibt es schlechtes Bild, aber das war so nicht. Wir haben Stenzels Anfrage kurz abgehandelt.

STANDARD: Sie schließen aus, dass es politische Interventionen gegeben hat?

Hacker: Was ich ausschließen kann ist, dass es Interventionen seitens der Stadt oder seitens des FSW gegeben hat. Ich glaube auch nicht, dass Frau Stenzel interveniert hat. Ausschließen kann ich es nicht.

STANDARD: Wie kommt es, dass der Einsatz so große Ausmaße angenommen hat. Mit acht Polizeiautos?

Hacker: Die Bezirkspolizei war mit vier Mann vor Ort, dann hat einer der Obdachlosen Widerstand geleistet. Dieser wurde über Funk kommuniziert. Es sind dann offensichtlich acht Funkstreifen dort gestanden.

STANDARD: Können Sie es ausschließen, dass es weitere Räumungsaktionen geben wird?

Hacker: Nein, das kann ich nicht ausschließen. Der öffentliche Raum gehört uns allen. Das klingt auf den ersten Blick sehr großzügig. Klar ist aber, dass in der Stadt nicht jeder alles tun kann.

STANDARD: Nach und nach werden die Strafen bekannt, die bereits verteilt wurden ...

Hacker: Wegen der Kampierverordnung ist gar niemand bestraft worden. Es gibt eine einzige Strafe, die ausgesprochen wurde und das war wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt.

STANDARD:  Uns liegt eine Anzeige aus dem Ezterhazypark vor. Verhängt wurden aufgrund der Kampierverordnung 140 Euro oder 8 Stunden Gefängnis.

Hacker: Ich kenne den Einzelfall nicht.

STANDARD: In Ihrer Argumentation beziehen Sie sich auf die Wahrung der öffentlichen Ordnung. Darauf beruft sich auch Viktor Orbán. Wo unterscheidet sich da noch die Handhabe zwischen Österreich und Ungarn?

Hacker: Na ganz radikal. In den Gesetzen in Ungarn steht drinnen, dass Obdachlosigkeit verboten ist. Wir haben so ein Gesetz nicht.

STANDARD: Aber wenn man seinen Schlafsack nirgendwo ausrollen darf, dann ist Obdachlosigkeit defacto verboten.

Hacker: Nein. Nicht alles was hinkt ist ein Vergleich. Das, was in Ungarn passiert, ist Zynismus auf höchstem Niveau. Den sollten wir uns nicht selber einreden.

STANDARD: Bekommt Wien aufgrund verschärfter Gesetze in Ungarn oder Salzburg ein Kapazitätsproblem?

Hacker: Wir wissen schon seit längerer Zeit, dass wir ein steigendes Problem haben. In Wien wurde in den letzten Jahren das ganze Segment der Wagonie abgeschafft. Zwischen den Wagons haben hunderte Obdachlose geschlafen. Viele konnten wir in Notquartieren unterbringen, aber nicht alle.

STANDARD: Die Notquartiere platzen aus allen Nähten.

Hacker: Wir haben hier Verbesserungsbedarf. Die Caritas übernimmt die Verteilung der Nachtquartiere. Weil aber nicht alle Angemeldeten ins Quartier gehen, haben wir oft noch einige Plätze frei, was die Caritas nicht sieht.

STANDARD: Wie wollen Sie das ändern?

Hacker: Wir werden sozusagen überbuchen, damit wir dann in die Nähe von 95 Prozent kommen.

STANDARD: Wie hoch ist der Anteil der Obdachlosen, wieviele von ihnen kommen nicht aus Wien?

Hacker: Wir haben rund 5000 Plätze und sehen bis zu 9000 verschiedene Personen im Jahr. Wir schätzen, dass etwa 200 weitere Menschen auf der Straße leben. Wie es aussieht sind rund die Hälfte der Obdachlosen in den Nachtquartieren in Wien keine Wiener.

STANDARD: Das heißt, sie sehen auch die Bundesländer gefordert, Wien zu unterstützen?

Hacker: Definitiv.

STANDARD: Wie könnte diese Unterstützung ausschauen?

Hacker: Offensichtlich gibt es einen Bedarf an Obdachloseneinrichtungen in den Bundesländern. Geplant ist auch ein Ausbau unserer Rückkehrberatung. Es gibt eine Rückkehrberatung in die EU-Länder, damit haben wir 2011 begonnen.

STANDARD: Gibt es schon eine Bilanz?

Hacker: So wie es ausschaut, gelingt es, dass über ein Drittel der Menschen, die diese Beratung in Anspruch nehmen, in die Länder zurückkehren. Ein Drittel ist ein ganz ein guter Wert, meiner Meinung nach ist da aber noch Verbesserung möglich. Wir hatten immer schon das Phänomen, dass Obdachlose nach Wien gekommen sind. Jetzt dürfte es aber eine neue Dimension erreicht haben. Wenn in einem Nachtquarier 40, 50 Leute sind, die am Tag davor in einem Bundesland waren, dann ist es einfach zuviel. Das sind zwanzig Prozent der Nachtquartiersplätze. Wenn das fünf oder sechs sind, sagt kein Mensch etwas.

STANDARD: Sie waren anfänglich kein Fan der zweiten Gruft für EU-Ausländer. Haben Sie Ihre Meinung geändert?

Hacker: Ein Notschlafquartier darf niemals als Ende der Hilfskette verstanden werden. Über diesen Punkt waren wir mit der Caritas nicht einig – die das auch immer selbstständig betreiben wollte.

STANDARD: Bis auf die zweite Gruft gibt es in ganz Österreich keine Einrichtung für EU-Ausländer. Also müssen alle Betroffenen nach Wien, oder?

Hacker: Wir brauchen dringend Konzepte für Armutswanderung. Daher haben wir auch eine Arbeitsgruppe beschlossen, die sich mit dem Phänomen Zuwanderung ins Sozialsystem beschäftigten muss.

STANDARD: Ein heikles Thema.

Hacker: Ein superheikles Thema. Niemand hat Lust, die Obdachlosenhilfe Ungarns aufzubauen. Aber jeder, der hier arbeitet kann abstürzen; auch jemand, der in der 24. Generation in Meidling geboren ist. Das soziale Hilfesystem muss zur Verfügung stehen. Das kann aber nicht heißen, dass wir die Wohnungslosenhilfe von halb Europa übernehmen. Es geht zunehmend um Arbeiterwanderbewegungen, die keiner wahrhaben will. Wenn Baufirmen ihre Heerscharen von Arbeitern durch Europa karren, und auf die Idee kommen, die in den Winterquartieren schlafen zu lassen, müssen wir darüber reden.

STANDARD: Welche Firmen sind das?

Hacker: Ich sag sicher keinen Namen.

STANDARD: Firmen aus Österreich?

Hacker: Freilich. Österreichische Erfolgsunternehmen genauso wie ausländische.

STANDARD: Fühlen Sie sich vom Bund allein gelassen?

Hacker: Wir brauchen mehr Fakten für die Fragestellung. Es ist auch die Frage der Niederlassungsfreiheit ein schwieriges Thema. Es gilt der weit verbreitete Irrtum, man kann sich niederlassen wo man will, aber das stimmt so nicht. Das gilt nur, wenn man in der Lage ist sich selbst zu erhalten. Mit den Konsequenzen hat sich in ganz Europa noch niemand beschäftigt. (Julia Herrnböck, Rosa Winkler-Hermaden, DER STANDARD, 30.10.2013)