Marc Wittmann, Zeitforscher aus Deutschland.

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derStandard.at: Work-Life-Balance ist ein großes Thema bei der Berufswahl. Geht die jüngere Generation bewusster mit ihren Ressourcen um, oder täuscht der Eindruck?

Wittmann: In den letzten Jahren ist das zumindest mehr ins Bewusstsein gerückt. Seit über 200 Jahren, mit Beginn der Industrialisierung, beschleunigen sich die Dinge. Wir befinden uns immer mehr im Zustand des Gehetzt-Fühlens. Die Reaktion ist, dass man das immer öfters auch artikuliert und wieder aus dem Hamsterrad rausmöchte. Die Intensität hat zwar zugenommen, komplett neu ist es aber nicht.

derStandard.at: Die Wahrnehmung, dass man sich unter Druck fühlt, ändert sich also kaum?

Wittmann: Es kommt in Schüben. Zuerst gab es den Übergang von einer handwerklich-bäuerlichen Gesellschaft, in der ein Mensch alles in der Hand hatte, hin zur Industriegesellschaft, wo Fertigungsprozesse schneller wurden. Jetzt erleben wir den elektronischen Schub. Vor 15 Jahren hat man sich über Leute mit Handys noch lustig gemacht. Diese permanente Erreichbarkeit via Handy oder Mail, auch im Privatleben, vermittelt das Gefühl der Beschleunigung. Ruhezeiten gibt es praktisch nicht mehr.

derStandard.at: Das äußert sich wie?

Wittmann: Ein typisches Beispiel ist ein verlängertes Wochenende mit drei, vier freien Tagen. Man nimmt sich bewusst vor, keinen Computer ins Hotel mitzunehmen, keine E-Mails zu lesen. Kommt man retour ist man mit 300 oder mehr Mails konfrontiert. Das heißt, man kann dem gar nicht mehr entkommen. Dieser enorme Zeitdruck kann schon als Phänomen der letzten 15 Jahre gesehen werden.

derStandard.at: Ist alles technologiegetrieben?

Wittmann: Mobile Kommunikation ist ein wichtiger Aspekt, aber auch der Verkehr. Man steigt ins Flugzeug ein und kommt in vergleichsweise kurzer Zeit einmal um die Welt. Das sind alles Beschleunigungsvorgänge, die von der Intensität her zugenommen haben.

derStandard.at: Den Trend bei der jungen Generation, zwischendurch "auszusteigen", sehen Sie nicht?

Wittmann: Ich würde es umgekehrt sehen. Die Jüngeren wurden in diese Technologien hineingeboren, sie haben einen selbstverständlichen Umgang mit erhöhter Geschwindigkeit und dem Zeitdruck, weil sie den Unterschied nicht kennen. Jene, die vierzig Jahre und älter sind, haben das in ihrer Kindheit nicht erlebt. Allerdings, und das habe ich schon oft gehört, können Jüngere schlechter mit Wartezeiten umgehen.

derStandard.at: Wie manifestiert sich der unterschiedliche Umgang mit Wartezeiten?

Wittmann: Leute zücken bei jeder auch noch so kurzen Wartezeit ihre elektronischen Geräte. Da geht es immer ums Überbrücken, sonst wäre man ja mit sich selbst beschäftigt. Statt es als Pause vom Gehetzt-Sein zu empfinden, muss man sich in dieser leeren Zeit ablenken.

derStandard.at: Zeit überbrücken bis zum nächsten Ereignis?

Wittmann: Wir verlieren total die Gegenwärtigkeit, das Gespür dafür und leben nur noch für die Zukunft. Leute arbeiten nur mehr ihre Terminkalender ab, um Deadlines erfüllen zu können.

derStandard.at: Gibt es ein probates Mittel, um wieder in die Gegenwart zu kommen?

Wittmann: Es gibt diese Aspirin-Mentalität. Bei Kopfschmerzen werfe ich eine Tablette ein und zwanzig Minuten später ist der Schmerz weg. So etwas existiert in dem Fall nicht. Jeder muss lernen, wie er es schafft, Abstand zu wahren und sich selbst wieder zu spüren.

derStandard.at: Im Arbeitsalltag könnte das wie gelingen?

Wittmann: Eine Möglichkeit ist eine paradoxe Intervention. Gerade, wann man am meisten Stress hat, sollte man rausgehen und für ein paar Minuten durchschnaufen, um wieder ein Gegenwartsverständnis zu bekommen. Zeit dehnt sich dann wieder, Spannungen lösen sich auf. Im Hinterstübchen lassen sich wieder Dinge sortieren. Was die Not der Raucher ist, jede Stunde rausgehen zu müssen, könnte bei den anderen zur Tugend werden.  Es gibt schließlich Hinweise, dass die Konzentrationsfähigkeit für 45 Minuten reicht, danach nimmt die Produktivität ab.

derStandard.at: Zu sagen, ich habe keine Zeit, ich bin so im Stress, tragen viele wie einen Orden vor sich her.

Wittmann: Das soll unterstreichen, wie wichtig jemand ist. Durch diese Hektik wechselt die Aufmerksamkeit zu schnell zwischen verschiedenen Aufgaben. Zuerst lese ich einen Text, dann beantworte ich das E-Mail, zwischendurch führe ich Gespräche mit Kollegen. Das führt dazu, dass man Sachen nicht mehr richtig erledigt. Darunter leidet die Qualität der Arbeit. Diese Organisationspsychologie ist nichts Neues: Nur eine Sache machen, diese dafür zu Ende bringen.

derStandard.at: Und wenn Mails permanent die Tätigkeiten unterbrechen?

Wittmann: In vielen Berufen könnte man es zum Beispiel auf drei Mail-Abrufe pro Tag beschränken. Das stellt auch die ständige Verfügbarkeit ab. Bei Volkswagen werden nach Dienstschluss keine Mails mehr an Smartphones der Mitarbeiter weitergeleitet. Das beugt Ausbrennen als Resultat ständiger Erreichbarkeit vor, weil klar ist, dass nach Dienstschluss das Privatleben beginnt und nichts Wichtiges mehr kommen kann.

derStandard.at: Das könnte in vielen Firmen als Kommunikationsphilosophie implementiert werden?

Wittmann: Das ist eine Frage des Zeitregimes. Ein Vorstand eines großen Autokonzerns, der sehr viel Verantwortung hat, geht pünktlich um sechs Uhr aus dem Büro, um Zeit mit seiner Familie zu verbringen.

derStandard.at: Solche Maßnahmen müssen von der Führungsetage in Richtung Mitarbeiter gehen?

Wittmann: Natürlich. Was macht ein Angestellter, der vom Chef Überstunden aufgetragen bekommt? Das ist auch immer eine Machtfrage.

derStandard.at: Ist Zeitmanagement und der Umgang mit Zeit eine Frage der Sozialisation?

Wittmann: Es gibt dieses Marshmallow-Experiment aus den frühen 70er Jahren. Kindergartenkinder wurden getestet, ob sie einen Marshmallow gleich essen oder sie die Aussicht auf einen zweiten warten lässt. Ein Aufschub von Gratifikation, die Belohnung steigt. Manche konnten warten, andere wiederum haben ihn gleich verschlungen. Zwanzig Jahre später hat man die Kinder von damals getestet und konnte feststellen, dass jene, die warten konnten, besser in der Schule und sozial kompetenter waren. Dieser Zusammenhang besteht auch vierzig Jahre später noch, wie ein weiterer Test ergeben hat. Die Selbstkontrolle ist besser ausgeprägt. Die Interpretation ist, dass Wartezeit etwas mit Frustrationstoleranz und Emotionsregulierung zu tun hat, sprich mit der Fähigkeit, seinen Drang kontrollieren zu können. (Oliver Mark, derStandard.at/Langfassung von Interview in Karrieren Standards, 29.10.2013)