Lernen für den Uni-Abschluss und fürs Leben: Studierende an der University of California, Berkeley.

Foto: Viennale

Die Herstellung von Wissen lässt sich nicht so ohne Weiteres abbilden. Ein probates Mittel, derart immateriellen Vorgängen nahezukommen, liegt darin, sie mehr oder weniger in Echtzeit zu begleiten. Dann kann man beispielsweise dabei zuhören und zusehen, wie in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Armut in einem politikwissenschaftlichen Seminar ganz unterschiedliche Blickwinkel zum Tragen kommen, wie hinter individuellen Erfahrungen schließlich strukturelle Grundlagen zutage gefördert werden - und was das alles mit Ethik zu tun hat.

Routine und Zukunftsmusik

Die sichtbaren Grundlagen einer Institution sind Gebäude, Menschen, konkrete Arbeitsabläufe. An einer Universität wird gelehrt und geforscht. Aber es wird auch verwaltet und Politik gemacht (von Bürokraten genauso wie von Demonstranten). Das Tagesgeschäft gehört abgewickelt, und Entscheidungen gehören getroffen, die weit in die Zukunft reichen. Dazwischen finden soziale Zusammenkünfte statt: eine Lyriklesung, eine Musikdarbietung, ein Sportereignis.

All diese Aspekte und Vorkommnisse finden Eingang in Frederick Wisemans At Berkeley. Wiseman, inzwischen 83-jähriger Doyen jener Schule des Dokumentarfilms, die sich der kommentarlosen, begleitenden Beobachtung (und der sich daraus ergebenden Institutionskritik) verschrieben hat, führt in seinem jüngsten Werk auf den Campus der University of California, Berkeley: eine der auch international renommiertesten US-Hochschulen, 1868 vom Bundesstaat gegründet, als erster von insgesamt zehn Standorten des kalifornischen Uni-Verbunds.

Die Verpflichtung gegenüber dieser Geschichte als "öffentliche" Bildungseinrichtung - im Unterschied zu den großen, traditionsreichen Privat-Unis im Osten - wird schon mit den ersten Sequenzen als ein wichtiges Thema des Films etabliert. Die Universität hat ein Jahresbudget von 1,9 Milliarden US-Dollar, nur noch 16 Prozent davon schießt der Bundesstaat zu. Tendenziell wird dieser Anteil weiter sinken - wie lässt sich also der Anspruch auf größtmögliche Diversität bei den Studierenden aufrechterhalten?

Außerdem macht diese Entwicklung Einsparungen nötig. Diese wiederum betreffen nicht nur das wissenschaftliche Personal oder die Studierenden: Es gibt, so erfährt ein staunendes Uni-Gremium vom dafür Verantwortlichen, auch nur noch einen Angestellten, der fürs Rasenmähen zuständig ist: "Dieser Mann ist aber wirklich gut!"

Den Wandel managen

Verwaltungsbedienstete erfahren in Schulungen durch Externe, wie man "den Wandel managt". Andere Gremien kommen zusammen, um zu diskutieren, ob das Angebot, die Babysitterkosten für Jungprofessoren zu übernehmen, weiter bestehen soll oder ob man damit nicht die Kinderlosen diskriminiert. Nicht nur in diesem Fall spielt auch der Wettbewerb der Universitäten um hoch qualifiziertes Personal eine Rolle: Entscheidend für die Fortführung der Aktion ist schließlich das Argument, dass es einen Standortnachteil bedeutete, würde man diesen vergleichsweise kostengünstigen Service einsparen.

Im letzten Teil des Films rückt eine weitere Front in den Fokus: Studierende legen kurzfristig den Uni-Betrieb lahm, weil sie gegen Gebührenerhöhungen und überhaupt für freien Uni-Zugang demonstrieren. In den 1960er-Jahren reagierten ihre Vorgänger unter anderem mit dem "Free Speech Movement" auf Bevormundung und Einschränkungen. Damalige Proponenten gehören nun jener Führungsebene an, die sich überlegen muss, wie sie etwa mit der Besetzung der Uni-Bibliothek umgeht.

At Berkeley entfaltet all diese Entwicklungen - und Widersprüche - über eine Dauer von vier Stunden (und vier Minuten). Er macht ungeheure Lust auf Auseinandersetzung und Bildung, auf Diskurs und Reflexion. Und er dokumentiert gegenwärtige Bildungsdebatten, die sich natürlich keineswegs auf die Uni in Berkeley oder die USA beschränken. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 24.10.2013)