Härte statt Hilfe - so lautet das Motto von Viktor Orbáns Sozialpolitik. Vor wenigen Wochen erließ Budapest ein Gesetz, das Obdachlosigkeit de facto unter Strafe stellt. Wer sich auf öffentlichen Plätzen aufhält, von dort vertrieben wird und die entstandene Strafe nicht bezahlen kann, dem droht Gefängnis. Ungarns Städte und Gemeinden können ab sofort eigene Zonen für Obdachlose einrichten, fernab der für den touristischen Flaneur herausgeputzten Plätze. Damit das Verbot durchgeht, hat die Regierung Orbán im Februar kurzerhand die Verfassung geändert - das Gesetz kann von der empörten Opposition nun nicht mehr ausgehebelt werden.

Die vorsorgliche Absicherung zeigt, dass sich die Regierung bewusst war, dass sie Umstrittenes plant - und dass sie es verdammt ernst damit meint. In Ungarn leben zwischen 30.000 und 35.000 Menschen auf der Straße; die Regierung begründet das Gesetz mit der Sorge "um die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die allgemeine Gesundheit und kulturelle Werte". Man darf bezweifeln, dass dies die wahre Motivation ist. Selbst wenn sie es wäre - die Rechnung ginge nicht auf. Wer glaubt, Armut mit Verboten bekämpfen zu können, der hat grundlegende soziale Zusammenhänge nicht verstanden.

Sichtbare Chancenlosigkeit

Obdachlosigkeit und Armut sind in der Regel keine Verhaltensoptionen, für die man sich bewusst und nach Abwägung mehrerer Möglichkeiten entscheidet. Niemand ist freiwillig obdachlos - es ist ein Sichtbarwerden krasser Chancenlosigkeit.

Natürlich ist öffentlich sichtbare Armut ein Affront für all jene, die an die Chancengleichheit aller Menschen glauben, die meinen, dass all jene an dieser Gesellschaft teilhaben können, die ausreichend Wille und Selbstdisziplin aufbringen. Das ist einer der Gründe, warum Ungarn die Armut aus dem öffentlichen Raum verbannen will: Seit dem Amtsantritt Orbáns ist die Zahl der unter dem Existenzminimum lebenden Menschen von 2,7 Millionen auf vier Millionen gestiegen. Nach Urin stinkende Systemverlierer auf fleckigen Zeitungen passen nicht zum Ideal von Wirtschaftswachstum und Weltkulturerbe.

Soziale Teilhabe als Schlüssel

Eine pluralistische Gesellschaft muss den Anblick von Armut in ihrer Mitte ertragen - vor allem in Zeiten der Krise. Wachsende Armut ist eine soziale Realität, auf die moderne Sozialstaaten wie Ungarn eine nachhaltige Antwort finden müssen. Indem sie sich ernsthaft bemühen, Chancengleichheit herzustellen und soziale Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft sicherzustellen. Das gelingt bekanntlich am ehesten über Bildung, Ausbildung und kluge Arbeitsmarktpolitik - und nicht über Verbote. Schicksale kann man nicht verbieten.

Die Regierung Orbán reagiert auf das Scheitern ihrer eigenen Sozialpolitik mit harter Law-and-Order-Politik - und verschärft so das Problem. Sie macht aus Armen Kriminelle. Indem man Obdachlosigkeit unter Strafe stellt und die Betroffenen damit zu Straffälligen stempelt, ist deren Chancenlosigkeit besiegelt - im schlimmsten Fall ein Leben lang. So legitimiert Orbán weitere Härte. Und Europa schaut ihm dabei zu. Ein Armutszeugnis. (Lisa Mayr, derStandard.at, 23.10.2013)