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Etwa 75 Jahre nach dem Novemberpogrom 1938 auf der Bühne des Wiener Burgtheaters: L. Heilman (Großaufnahme) sowie (v. li.) V. Neuwirth, M. Feingold, S.-L. Rabinovici, R. Gelbard.

Foto: APA/Werner

Wien - Der prägnante Satz zur Auslöschung jüdischen Lebens 1938 in Wien fällt beiläufig. Er stammt von Ari Rath (88), dem langjährigen Chefredakteur der Jerusalem Post: "Unter Hitler als Jude zu leben ist Selbstmord". Die letzten Zeugen heißt ein Erinnerungsabend des Wiener Burgtheaters. Sechs betagte Menschen jenseits der 80, drei Damen und drei Herren, sitzen dem Publikum frontal gegenüber. Ein Schleier dient als Projektionsfläche. Gezeigt werden Fotodokumente sowie Großaufnahmen der unbewegten Mienen.

Autor Doron Rabinovici hat das Programm im Verein mit Burgdirektor Matthias Hartmann entworfen. Man muss die Überlebenden des Holocaust darum bitten, über das von ihnen Erlebte zu sprechen. Eile ist geboten. Lucia Heilman, Vilma Neuwirth, Suzanne-Lucienne Rabinovici, Marko Feingold (100 Jahre alt), Rudolf Gelbard und Ari Rath legten Zeugnis ab. Vier Burg-Mimen liehen ihnen, von je einem Schluss-Statement der Hauptfiguren abgesehen, die Stimme.

Rabinovici/Hartmann haben die Worte der Opfer zu einem zusammenhängenden Text klug verwoben. Mit dem 11. März 1938, dem Tag der Schuschnigg-Rede im Radio, bricht etwas zusammen. Als hätten die Menschen auf ein Kommando hin die Fesseln der Zivilisation abgestreift, beginnen sie ihre jüdischen Mitbürger zu drangsalieren. Wohnnachbarn werden zum "Reiben" des Straßenpflasters gezwungen. Lucia Heilman, damals ein kleines Mädchen, bekennt: Das Johlen der "Volksgenossen" am Wiener Heldenplatz habe sie in Angst und Schrecken versetzt.

Jüdische Kinder werden aus den Schulklassen vertrieben. Die lieben Nachbarn von einst schlüpfen in SA-Uniformen. Von nun an wird jüdischen Bürgern die Menschenwürde vorenthalten. Es ist von biederen Hausfrauen die Rede, die, ehe sie auf den Markt einkaufen gehen, mit Ziemern auf jüdische Passanten einprügeln.

In atemloser Hast wechseln die Schauplätze: Man kommt von der Leopoldstadt in den Alsergrund. Die Bestialität des österreichischen Mobs erhält neue Nahrung durch die systematische Enteignungs- und Terrorpolitik der Nazis. Juden werden in Sammelwohnungen gepfercht. Ihr Lebensgefühl lautet: "unvorstellbare Angst". Viele begehen Selbstmord. Einige verpassen über der Diskussion, wohin sie auswandern könnten, den Zeitpunkt ihrer Abreise.

Abschiedssymphonie

Das Überleben in den Vernichtungslagern hängt vom Zufall ab. Die geschundenen Menschen machen Erfahrungen, die jede Vorstellungskraft überschreiten. Suzanne-Lucienne Rabinovici (81) erlebt die Auslöschung des Wil-naer Ghettos und übersteht die "Selektion" wie durch ein Wunder. Andere, wie Lucia Heilman (84), haben die Jahre der Verfolgung in Verstecken überstanden.

Der von Hartmann eingerichtete Abend bleibt zu jeder Zeit schlank und auf das Notwendigste beschränkt. Man sieht eine junge Frau, die die Füllfeder über eine Seite gleiten lässt. Die Schauspieler führen in einer Art Abschiedssymphonie jede und jeden Beteiligte(n) nach vorn. "Überleben ist ein Privileg, das verpflichtet", sagt Gelbard (82).

Ceija Stojka hat die Premiere dieses unverzichtbaren Abends nicht mehr erlebt. Die Roma-Künstlerin ist im Jänner gestorben. Nach Beendigung des offiziellen Teils standen die "letzten Zeugen" zum Gespräch zur Verfügung. Angeschnitten wurde die Bruchlosigkeit, mit der viele Täter in die Zweite Republik hinüberschlüpfen konnten. Heilman, die in Schulen über ihre Erfahrungen spricht: "Die Jungen verstehen vieles nicht. Ich bin alt." (Ronald Pohl, DER STANDARD, 22.10.2013)