Franz Schuh, Olga Flor, Sonja Puntscher Riekmann und Konrad Paul Liessmann (v. li.) in der Säulenhalle des Parlaments. 

Foto: standard/corn

"Es wird nur noch Politentertainment betrieben. Es gibt keinen politischen Diskurs mehr": Olga Flor.

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"Wir haben auch nichts getan, dass die politischen Spitzen anders aussehen. Eventuell sind wir wie die": Franz Schuh.

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STANDARD: Wir blicken zurück auf 25 Jahre österreichische Innenpolitik, die der Standard journalistisch begleitet hat. Was unterscheidet das Österreich von 2013 am meisten vom Österreich von 1988?

Schuh: Gar nichts und doch einiges. Für mich war das Anwachsen der FPÖ erstaunlich. Ich war in Kärnten, nachdem Jörg Haider zum ersten Mal abgesetzt wurde. Dabei habe ich erlebt, dass viele meinten: Jetzt ist es aus mit der Bewegung! Ich werde nicht vergessen, wie seltsam diese Bewegung war und wie sie sich vorm Lindwurm als Masse, nicht zuletzt aus Einzelnen in weißen Kniestrümpfen, verkörpert hat. Dass sich so etwas zur Spitzenleistung der berühmten fast 27 Prozent zusammenfassen konnte, ist erstaunlich.

Puntscher Riekmann: Ab einem gewissen Punkt war dieser Aufstieg unaufhaltsam, was auch damit zusammenhing, dass die regierenden, damals noch Großparteien mit dem EU-Beitritt, den ich für eines der entscheidenden Veränderungsmomente der Republik halte, jedes Projekt verloren hatten. Danach ging es beständig bergab bis zum Einschnitt der schwarz-blauen Regierung, was einen Boden aufbereitete, der offenkundig nicht einmal dadurch brüchig wurde, dass die Freiheitlichen kaum politisches Personal hatten, das regieren konnte. Aber die letzte große politische Anstrengung einer Regierung in diesem Land war, der EU beizutreten, um sich dann zurückzulehnen und die Dinge geschehen zu lassen.

Flor: Mein politisches Erwachen erfolgte 1986 durch die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten und den FPÖ-Parteitag in Innsbruck, als Haider die FPÖ übernommen hat, da war ich 18 und bin viel in Europa herumgefahren. Man hat sich überall rechtfertigen müssen für Waldheim; und dann habe ich immer sagen können: Ich habe ihn nicht gewählt. Was ich nicht dazugesagt habe, war, dass ich am Stichtag zu jung war. (lacht) Knapp vor 1989 hat man irgendwie das Gefühl gehabt, es ändert sich was, es wendet sich was zum Besseren, Europa öffnet sich. Der Eiserne Vorhang, der für mich in meiner Kindheit und Jugend wirklich bestimmend war, war mit einem Mal weg. Es war eine Zeit des hoffnungsvollen Umbruchs. Gleichzeitig erstarkten die Freiheitlichen. Was ich dabei bis heute nicht begreife: Die FPÖ hat Rot und Schwarz seit damals vor sich hergetrieben, ihre Forderungen wurden sukzessive umgesetzt, mit dem Ergebnis, dass Rot und Schwarz kontinuierlich Stimmen verloren und die Leute trotzdem FPÖ gewählt haben. Warum führt das nicht zu einem Umdenken bei SPÖ und ÖVP?

Liessmann: Ich finde es sehr erstaunlich, dass wir 25 Jahre österreichische Geschichte, 25 Jahre Standard wieder mal ausschließlich im Hinblick auf die FPÖ sehen. Ich halte das dann doch für eine Überbewertung. Diese 25 Jahre haben auch andere markante Wendepunkte gehabt. Ganz sicher die auslaufende Waldheim-Geschichte, wie schon angedeutet, der Fall des Eisernen Vorhangs, der die Nachkriegsordnung zum Einsturz gebracht hat, der jugoslawische Bürgerkrieg, wo sich unmittelbar vor unserer Grenze ein Grausamkeitsexzess abgespielt hat, den man im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht mehr erwartet hätte, und natürlich der EU-Beitritt mit der berechtigten Hoffnung, dass sich damit vieles ändert sollte und bestimmte Gefahren, wie ein Abgleiten in rechtsgerichtete Politik, gebannt würden, mit der paradoxen Folge, dass genau die Zeit nach dem EU-Beitritt zu Haiders Aufstieg geführt hat. Der große Wahlerfolg war 1999. Da hatten wir ja schon die Segnungen des EU-Beitritts.

STANDARD: Und doch kreist das Gespräch von Beginn an um die FPÖ.

Liessmann: Die FPÖ ist, soziologisch gesehen, eine neue Arbeiterpartei, sie spricht jene 20 bis 30 Prozent Industriearbeiter an, die auch eine moderne, digitalisierte Dienstleistungsgesellschaft noch hat und auch braucht. Das Problem ist, dass die SPÖ es verabsäumt hat, dieses Erbe als Arbeiterpartei in moderne Zeiten zu retten. Die symbolische Wirkung, die darin besteht, dass ehemalige hochrangige Spitzenfunktionäre der Sozialdemokratie nach ihrem Ausscheiden aus der Politik in die Vorstandsetagen internationaler Unternehmen wechseln und auch nicht internationale Gewerkschaften beraten, sondern asiatische Diktatoren und russische Gaskonzerne, ist verheerend. Ähnliches gilt, was wirtschaftsliberale Konzepte betrifft, für die ÖVP, die in der Zerreißprobe zwischen drei Bünden nicht in die moderne Zeit gefunden hat. Irgendjemand musste die Vertrauensverluste der ehemaligen Großparteien auffangen.

Puntscher Riekmann: Völlig richtig, aber mit dieser Funktion ist die FPÖ nicht als Marginalie der Geschichte zu betrachten, sondern ein zentraler Akteur der österreichischen Politik, der zumindest die Sozialdemokratie, aber auch die ÖVP vor sich hertreibt.

Liessmann: Na ja, als die FPÖ bzw. das BZÖ Regierungsverantwortung hatten, sprach man nicht ganz zu Unrecht von einer Alleinregierung Schüssel mit einem blauen bzw. orangen Anhängsel.

Puntscher Riekmann: Aber es geht doch darum, was inhaltlich geschah. All die Umbrüche vom Fall des Eisernen Vorhangs bis zum EU-Beitritt und dessen Folgen - vom Euro bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise - sind ein fruchtbarer Boden für eine Schließung, das ist es, was die FPÖ betreibt: Sie denkt ja nicht mehr großdeutsch, sondern entdeckt das Nationale und Nationalistische. Es geht um den Versuch, die Grenzen zu schließen, nicht nur die realen Grenzen des Staates, sondern auch die der Köpfe, und dann Menschen, die Angst haben, in diesem Prozess zu verlieren, dort abzuholen, wo sie stehen. Das ist im Übrigen ein europaweites Phänomen.

Flor: Die österreichischen Freiheitlichen waren Vorreiter - neben Le Pen. Ich möchte nur das sogenannte Ausländervolksbegehren erwähnen, das "Österreich zuerst" hieß. Seit damals ist die Angst vor der Xenophobie beherrschend für die österreichische Innenpolitik, für das, was die Sozialdemokratie und Volkspartei tatsächlich an Gesetzen machen.

Liessmann: Als Volksbegehren war es ein Misserfolg und hat gleichzeitig die größte zivilgesellschaftliche öffentliche Anti-Aktion hervorgerufen, das Lichtermeer.

Puntscher Riekmann: Das aber die Politik nicht geändert hat. Die reale Gesetzgebung war eine andere. Von Löschnak über Schlögl bis herauf zu Fekter und Mikl-Leitner.

Schuh: Ich will Liessmann nicht überinterpretieren, aber was er gesagt hat, klingt, als wäre die FPÖ zwar überbewertet, aber zugleich so etwas wie die Leibniz'sche Monade, in der sich der Rest Österreichs spiegelt. Denn die beschworenen Umbrüche münden in Strategien, die von dieser einen Gruppe erfolgreicher eingesetzt wurden. Der Witz besteht ja darin, das war leicht zu wissen, dass die Wähler der FPÖ, dieser rechte Wählerbestand, in den anderen Parteien gebändigt waren. Diesen Leuten "Angebote zu machen" wäre möglich gewesen. Die Coolness, mit der man die alten Betriebskaiser und Gewerkschaftsfürsten hinauskatapultiert hat, die etwas wunderbar Altmodisches und daher, zugegeben, auch Fragwürdiges waren, ist einer der Gründe, warum der sozialdemokratische Populismus kaum mehr funktioniert.

Puntscher Riekmann: Die Tatsache, dass die schwarz-blaue Regierung den Anschein erweckte, Schüssel regiert, während die anderen versuchen, irgendwie ihre Ministerposten zu füllen, ist übrigens nicht korrekt, weil interessanterweise mit der Schüssel-Regierung auch in der ÖVP-Europapolitik ein seltsamer Schwenk eintrat. Das hat auch mit den berühmten Maßnahmen der EU-14 gegen Österreich zu tun, die man zwar aus rechtlicher Sicht kritisieren kann, aber plötzlich gab es einen unglaublichen Souveränitätsreflex in der ÖVP. Die anvisierte europäische Einwanderungspolitik etwa, die angesichts der Tragödien vor Lampedusa besonders aktuell wäre, wurde nicht zuletzt von dieser Regierung damals in Dublin gestoppt. Insofern hatte diese Koalition höchst problematische Konsequenzen, die man nicht bagatellisieren kann.

Liessmann: Dann hätten die nachfolgenden Regierungen längst Zeit gehabt, das alles zu korrigieren.

Flor: Diese Regierung handelt zaghaft und mutlos. Das beste Beispiel ist das mit diesen 500 syrischen Flüchtlingen bei über zwei Millionen, die mittlerweile auf der Flucht sind, dasselbe gilt für die Flüchtlinge auf Lampedusa, da muss man sich auch anschauen, was ist dort eigentlich los. Aber dass man sagt, wir nehmen 500 Flüchtlinge auf, weil mehr will die Regierung der Bevölkerung nicht zumuten, das ist eine Schande.

STANDARD: Gab es seit 1988 im Hinblick auf politische (Selbst-)Inszenierung auffällige Veränderungen?

Schuh: Ich bin der Meinung, dass die österreichische Variante dieser Mediendemokratie sich von Kreisky herleitet. Kreisky hat sie Mores gelehrt - es ist sogar ein Zitat daraus geworden, mit dem der österreichische Journalist sich jederzeit selbst relativieren kann: Lernen Sie Geschichte, Herr Redakteur. Die Medien nach Kreisky haben das Kräfteverhältnis umgedreht. Sie machen sich jetzt die Politiker zu eigen. Faszinierend war beim letzten Wahlkampf die Absurdität des selbstregulativen Systems: Politiker werden von Medienberatern geschult. Andere Medienberater interpretieren, was Politiker gesagt haben, ob ihnen ihre Aussagen gut gelungen sind, und der Journalismus steht daneben und moderiert das, was die Medienberater den Politikern gesagt haben. Das ist ein idiotisches System. Die österreichische Politik kann man sich daher überhaupt ersparen: Im Fernsehen gibt es ausgezeichnete Schminkkünstler, die können jeden "Experten" für jede Rolle schminken. Der Experte kann dann alles spielen: vom Kanzler bis zur Lindner. Der Schein, der ja etwas Wichtiges ist für das Sein, macht sich da auf eine einprägsame Weise selbstständig. Die Kooperation mit der Kronen Zeitung ist für die Sozialdemokratie notwendig, weil die Partei in der Bevölkerung nicht mehr verankert ist. Daher muss sie sich dort verankern, wo professionell eine scheinhafte Beziehung zum "Volk" hergestellt wird.

Puntscher Riekmann: Dass sich Politiker der Medien bedienen, um mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren, würde ich noch nicht per se verteufeln. Das ist immer und überall der Fall. Ich sehe zwei Probleme: die Kultur der Spindoktoren, die um teures Geld mit oft fragwürdigem Ergebnis geholt werden. Denken wir nur an den deutschen Spindoktor, dem es nicht gelungen ist, Herrn Spindelegger zu einem noch einigermaßen authentischen Redner zu stilisieren. Das entlarvt sich dann oft auch selber. Das andere ist das Bündnis mit bestimmten Medien, das sich Ausliefern oder jene Deals, wie z. B. der berühmte Brief von Herrn Faymann und dem damaligen Kanzler Gusenbauer an den Herausgeber der Kronen Zeitung zur Europapolitik. Das grenzt dann ans Absurde, ist aber vor allem gefährlich. Denn da kommt eine Macht ins Spiel, die überhaupt nicht mehr kontrollierbar ist. Dieses Machtbündnis ist das wirkliche Problem. Und, wie ich nicht müde werde zu sagen: Wer kontrolliert die vierte Macht? Das ist jetzt natürlich in einer Zeitung gesagt problematisch ... (lacht)

STANDARD: Tun Sie sich keinen Zwang an. Wir halten das aus.

Puntscher Riekmann: Welche Checks and Balances gibt es gegenüber den Medien? Das ist in Österreich besonders problematisch.

Flor: Auch in Italien ...

Puntscher Riekmann: In Italien sind es nicht die Printmedien, sondern die TV-Sender. England wäre hier auch noch zu nennen. Da hat sich eine vollkommen verselbstständigte Machtwelt konstituiert, die einfach tut und lässt, was sie will.

Liessmann: Ob jetzt einer der Krone einen Leserbrief schreibt oder sich für eine ORF-Diskussion von einem Spindoktor beraten lässt und gerade deshalb inauthentisch wirkt, sind zwei Arten, mit Medien umzugehen. Es gibt außerhalb der Medien fast keinen Ort mehr, außer die Versammlung auf dem öffentlichen Platz, wo der Politiker direkt in Erscheinung treten kann, sonst ist immer ein Medium dazwischengeschaltet, ob Fernsehen, Radio, Printmedium oder Facebook. Was mir auffällt bei den Versuchen österreichischer Politiker, sich selbst zu inszenieren, ist der kabarettistische Mehrwert. Die TV-Debatten mit Spindelegger und Stronach oder Strache und Bucher waren unschlagbar in ihrem Heiterkeitswert.

Flor: Ein wirklich problematischer Aspekt ist die Auslagerung der Presseförderung in flächendeckende Inseratenschaltungen. Das ist ein Riesenproblem.

Schuh: Ich habe bei diesen Dingen, auch beim Kabarett von Politikern, das Gefühl, dass das nicht "die anderen" sind, sondern diese Kasperl-Performance produzieren wir selbst, und zwar auf die Weise, in der Mengen von Menschen funktionieren: Auf jeweils andere Art ist es am Ende ein jeder gewesen! Sich davon zu distanzieren ist notwendig, denn ganz blöd ist man ja nicht, aber ich würde zur Notwendigkeit hinzuzählen: Wir haben auch nichts getan, dass die Spitzen anders aussehen. Eventuell sind wir genauso Kabarettisten wie die, über die wir lachen. Außerdem - vor Jahrzehnten hat es Hans Magnus Enzensberger schon gesagt: Mir tun sie leid, die politischen Funktionäre, und Karl Kraus hat die Leute an der Spitze "die Ohnmachthaber" genannt.

STANDARD: Müssen uns die Politiker leid tun? Tun sie Ihnen leid?

Schuh: Nur aus einer spezifischen Perspektive, um die ich nicht herumkann. Sonst tut mir der leid, dem der Cap leidtut. Die Politiker sind aber, was sie sind, nicht nur von selbst geworden.

Liessmann: Natürlich nicht. Dahinter steckt eine Erosion von dem, was politische Öffentlichkeit heißt, und auch eine Erosion von dem, was Max Weber "Politik als Beruf" genannt hat. In dem Moment, wo wir tatsächlich keine Achtung mehr hätten vor denjenigen, die das Gemeinwohl verwalten, haben wir vor uns selbst keinen Respekt mehr. Wenn wir die mit dem Begriff Politik zusammenhängenden Akteure und Verfahren nicht mehr richtig ernst nehmen (können), wäre das für mich ein Alarmsignal: der Beginn der Erosion demokratischer Organisationsstrukturen.

Flor: Ich rede jetzt nicht von unfreiwilliger Komik, sondern von der freiwilligen Anpassung an einen Unterhaltungsauftrag. SPÖ und ÖVP haben es geschafft, Österreich in einer sehr krisenhaften Zeit einigermaßen heil dastehen zu lassen, aber sie haben es nicht geschafft, das im Wahlkampf zu vermitteln, stattdessen haben sie ihren Spindoktoren gehorcht, sich mit Wald und Wiese und sonst was umgeben und dem Politischen keine Bedeutung beigemessen. Die trauen sich ja nicht einmal mehr zu sagen: Das ist unser politischer Inhalt. Dafür stehen wir. Das haben wir gut gemacht. Es wird nur noch Politentertainment betrieben. Es gibt ja auch keinen tiefergehenden politischen Diskurs mehr in der Öffentlichkeit. Sich auf das Wagnis einzulassen, wirklich für etwas zu stehen und zu riskieren, dass es die Medien vielleicht nicht positiv aufnehmen, dieses Element fehlt völlig.

Puntscher Riekmann: Wobei man vielleicht auch ein Fragezeichen machen könnte hinter den Satz, es ist die Politik, die es geschafft hat, Österreich in der Krise einigermaßen gut dastehen zu lassen.

Schuh: Die deutsche Wirtschaft war das ...

Puntscher Riekmann: Ich erwähne nur das Stichwort Hypo. Viel schlimmer hätte man diese Sache nicht lösen können, es kommen noch andere Banken dazu. Aber sicher steht Österreich insgesamt im europäischen oder internationalen Vergleich gut da. Ich sehe aber ein großes Unbehagen gegenüber demokratischen Institutionen. Dabei kommt dieses Misstrauen gegenüber Institutionen oder der Unwille, sie ernst zu nehmen, nicht nur von unten, sondern auch von oben. Ich musste wirklich mit Entsetzen wahrnehmen, dass auch unser Herr Bundespräsident findet, dass ein Vieraugengespräch mit allfälligen Ministerkandidaten ein durchaus gültiger Ersatz für ein Parlamentshearing sei. Es geht nicht mehr um die Weiterentwicklung des Parlamentarismus und damit die Herstellung von Öffentlichkeit. Diese Demontage der Parlamente halte ich für ein großes Problem der modernen Demokratie.

Flor: Dazu passt das Abdrehen des Korruptionsuntersuchungsausschusses, das war eine Katastrophe für die Bedeutung und das Gewicht des Parlamentarismus.

Liessmann: Wir stecken, was die politische Kompetenzverteilung zwischen EU-Ebene und den nationalen Parlamenten betrifft, in einem Transformationsprozess. Da herrscht immer eine gewisse Form von Irritation über Funktion und Legitimität von Institutionen.

Puntscher Riekmann: Aber wir wählen sie!

Liessmann: Was Europa betrifft: bestenfalls indirekt. Und wählen kann man vieles. Wir wählen auch Waschmittel, wir stimmen als Konsumenten tagtäglich über etwas ab. Ich sage das, weil ich glaube, dass die Erosion des Politischen noch tiefer ansetzt, es geht ja dahin, dass man überhaupt keinen authentischen Ort des Politischen mehr kennt oder kennen will. Ehemalige politische Institutionen, nehmen wir die gesamte Bürokratie vom Passamt bis zur Polizei, werden in einem modernen Staat als Dienstleistungsunternehmen aufgefasst, die möglichst effizient und billig zu funktionieren haben. Politische Auseinandersetzung findet ausschließlich in der Sprache des Marketings statt. Es ist doch auffällig, wie unwidersprochen es bleibt, wenn es immer heißt, dass man einen Staat wie ein Unternehmen zu führen habe. Dieses Managementvokabular durchzieht mittlerweile alle Gesellschaftsbereiche, vom familiären Haushalt über die Unis bis zur Regierung. Und da komme ich zum Anfang zurück: Langfristig war z. B. die Ökonomisierung der Universitäten für die - bedenkliche - geistige Entwicklung dieses Landes um einiges bedeutsamer als das Auf und Ab der FPÖ. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 19.10.2013)