Jagdberg: Schlafsäle ohne Intimsphäre. Hier sollten Buben "gebessert" werden.

Foto: Vorarlberger Landesmuseum

Innsbruck/Bregenz - Das gewaltvolle System der Heimerziehung hat sich nach 1945 über Jahrzehnte halten können. Bis in die 1980er-Jahre hinein wurden tausende Kinder und Jugendliche, die meisten aus ärmlichen Verhältnissen, in Erziehungsheimen festgehalten, aufbewahrt, korrigiert. Psychische und physische Gewalt gehörte zu ihrem Alltag. Das Schicksal der jungen Menschen interessierte die Gesellschaft nicht.

Ein interdisziplinäres Team der Universität Innsbruck erforscht nun das Zusammenspiel von Recht, Pädagogik, Medizin und Politik zur Aufrechterhaltung der Fürsorgeerziehungssysteme in Tirol und Vorarlberg. Projektleiterin Michaela Ralser nennt die drei Säulen des Kontroll- und Machtsystems: Jugendfürsorge, Fürsorgeerziehungsheim und die Kinderpsychiatrie.

Verantwortung für "verzögerte Modernisierung"

Eine wesentliche Frage des Forschungsprojekts "Regime der Fürsorge. Geschichte der Heimerziehung in Tirol und Vorarlberg (1945-1990)" ist jene nach der Verantwortung für die "verzögerte Modernisierung", berichtete Ralser bei einer Infoveranstaltung in Feldkirch. Nach einer Vorstudie zur historischen Quellenlage, die von den beiden Ländern in Auftrag gegeben wurde, machten die Forscher fünf Vorschläge zur weiteren Erforschung der Thematik.

Zwei werden nun realisiert. Die länderübergreifende Studie, die in eineinhalb Jahren fertig sein soll und eine Studie zum einzigen Heim für schulentlassene Mädchen in den beiden Ländern.

Das Landeserziehungsheim St. Martin in Schwaz war zuerst ein Arbeitshaus, dann Frauenstrafanstalt mit "Abteilung für jugendliche Korrigendinnen". Die Mädchen wurden dort als Arbeitskräfte ausgebeutet. Die Studie soll den Opfern helfen, für die Zeit der erzwungenen Arbeit Pensionszeiten angerechnet zu bekommen.

Zeitzeugen sollen berichten

Für beide Projekte suchen die Forschenden Zeitzeugen: ehemalige Heimkinder, aber auch Erzieher und Fürsorgerinnen. Durch ihre Berichte soll "das Leben im Heim genauer rekonstruiert und die Struktur des Fürsorgeerziehungssystems nachgezeichnet werden", sagt Ralser.

Trotz optimaler Quellenlage auf Eis liegt die Erforschung des Landeserziehungsheims Jagdberg in Schlins/Vorarlberg. Dort waren über 2000 Buben aus Tirol und Vorarlberg untergebracht. Das Land Vorarlberg will die Ergebnisse der Überblicksstudie abwarten, bevor in eine Detailstudie investiert wird. (Jutta Berger, DER STANDARD, 18.10.2013)