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Kaum eine Spielart der menschlichen Sexualität ist derart mit Mythen und medizinischen Unwahrheiten behaftet wie die Masturbation.

Foto: epa/Jens-Noergaard Larsen

Jeder Mann hat es in seinem Leben schon einmal getan, kaum einer spricht aber offen und ehrlich darüber, wann, wo und wie oft er sich selbst befriedigt. "Wer wichst, ist ein Versager", lautet nicht selten die platte Botschaft, wenn in alkoholschwangeren Männerrunden über die "Liebe an und für sich" - wie es der US-amerikanische Regisseur und Schauspieler Woody Allen ausgedrückt hat - philosophiert wird. Schließlich ist die vulgärsprachliche Bezeichnung für die "fingerfertige Autosexualität", die von den schnellen Handbewegungen beim Putzen der Schuhe herrührt, gerade einmal 100 Jahre alt, denn das Wichsen der Offiziersstiefel zählte zur Zeit des Ersten Weltkriegs zu einer weitverbreiteten Disziplinierungsmaßnahme im soldatischen Milieu, mit der die hierarchische Ordnung nur allzu anschaulich zum Ausdruck gebracht wurde.

Kaum eine Facette der menschlichen Sexualität ist derart mit Mythen und medizinischen Unwahrheiten behaftet wie die Masturbation. "Bereits in der Antike wurde der Samen des Mannes als 'heilige', aber nur begrenzt verfügbare Flüssigkeit gesehen, aus der Leben entsteht und die deshalb nicht verschwendet werden durfte", erklärt der Linzer Sexualmediziner Georg Pfau.

Auch im Mittelalter dominierte die Vorstellung, dass der Samen eine lebenserhaltende Substanz - sogar wertvoller als Blut - sei und aus diesem Grund keinesfalls vergeudet werden solle. Ähnliche Bilder kursieren laut Pfau aber auch heute noch in den Köpfen heranwachsender Männer: "Es kommen immer wieder Jungs zu mir in die Praxis, die davon berichten, dass im Biologieunterricht solche Ammenmärchen - gemäß dem Motto 'Du musst den Samen sparen, andernfalls hast du keinen mehr, wenn du ein Kind zeugen möchtest' - erzählt werden."

Krankheit und Tod

Ausgerechnet während der Aufklärung geriet der Kampf gegen die Masturbation zur "Obsession einer ganzen Epoche", wie es der US-amerikanische Kulturhistoriker Thomas Laqueur formuliert. Philosophen, Pädagogen und Ärzte widmeten sich eingehend dem Handwerk der Eigenliebe und erklärten es für moralisch im höchsten Maß verwerflich. Anfang des 18. Jahrhunderts erschien in England ein vielbeachtetes Pamphlet mit dem Titel "Onania, oder die erschreckliche Sünde der Selbst-Befleckung". Der deutsche Philosoph Immanuel Kant schwadronierte über die "wollüstige Selbstschändung", und der Schweizer Mediziner Simon Auguste André David Tissot gelangte 1760 mit seinem Werk "Onanismus - oder die Abhandlung über Krankheiten, die durch Masturbation entstehen" zu außergewöhnlicher Popularität.

Onanie - wie die Selbstbefriedigung fälschlicherweise noch bezeichnet wird, denn genau genommen übte sich der alttestamentarische Onan in der Praxis des Coitus interruptus - wurde von nun an als Wurzel zahlreicher Krankheiten identifiziert. Anfang des 19. Jahrhunderts galt es etwa als medizinisch bewiesen, dass die "Unzucht mit der Hand" zu Schwindsucht, Sehschwäche, Impotenz, Verdauungsstörungen, Schwachsinn, Epilepsie, Tuberkulose oder unmittelbar zum Tod führen könne. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häuften sich die Vermerke in Krankenhausakten, die als Todesursache "Onanie" anführten.

Als Mittel gegen diese "Masturbationskrankheiten" empfahl die Ärzteschaft entweder Früherkennung - die sich etwa an Symptomen wie blassem Teint der Haut, Teilnahmslosigkeit, Faulheit, schlechter Haltung und zitternden Händen festmachen ließ - oder eben Prävention. So wurden Eltern dazu angehalten, ihren Kindern die Hände am Bett festzubinden oder einen "Erektionsdetektor" zu installieren, der ein Glöckchen zum Bimmeln brachte, sobald sich unter der Bettdecke der heranwachsenden Sprösslinge etwas lustvoll zu regen beginnen sollte.

Freudvoller Wegbereiter: Sigmund Freud

Im Gegensatz dazu hatte sich der Klerus zum "Spiel mit sich selbst" bis zur Aufklärung überraschend verhalten geäußert. Masturbation galt zwar als Sünde und wurde mitunter auch in Bußbüchern thematisiert, aber im weitaus größten Teil der theologischen Schriften war die sexuelle Selbststimulierung nicht einmal eine Randnotiz wert. Das änderte sich im 18. Jahrhundert schlagartig, und fortan stimmten auch die Kirchengelehrten den prüden Ton der Aufklärung an.

Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert: "Unsere teilweise immer noch vorherrschenden sexuellen Moralvorstellungen von der Selbstbefriedigung sind sicher ein zweifelhafter Verdienst der römisch-katholischen Kirche, die ja auch heute noch Masturbation verbieten will", so der Sexualmediziner.

Zunächst brauchte es Sigmund Freud, um den "Autoerotismus" - wie er es nannte - ein wenig von seinem Makel zu befreien. Immerhin definierte der Begründer der Psychoanalyse die Selbstbefriedigung als natürliche Reifestufe der Sexualität in der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen. Aber auch hier hat sich die Sichtweise Georg Pfau zufolge nur wenig gewandelt: "Noch heute wird die Masturbation als eine unreife Form der Sexualität dargestellt, die maximal dem jugendlichen Buben zugestanden wird", kritisiert der Experte.

Mindestens drei Ejakulationen pro Woche

Obwohl die Autosexualität 1972 von der American Medical Association als natürliche Facette der menschlichen Lust anerkannt wurde, haftet ihr nach wie vor das Stigma der notdürftigen Ersatzbefriedigung an, die im Vergleich zur partnerschaftlichen Sexualität nur ein minder freudvolles Schattendasein führen darf.

Georg Pfau plädiert dafür, das Thema Selbstbefriedigung endlich von diesem Negativ-Image zu befreien. "Die Masturbation ist ein fixer, gesunder Bestandteil der menschlichen Sexualität, mit positiven Effekten auf die biologische, psychische und soziale Entwicklung eines Menschen", ist der Sexualmediziner überzeugt.

Konkret bedeutet das: Indem wir uns lustvoll mit uns selbst beschäftigen, lernen wir unseren Körper kennen und erhalten so auch Anhaltspunkte über unsere eigentliche - im Geist verankerte - sexuelle Präferenz. Um die biologische Gesundheit des Mannes zu fördern, empfiehlt Georg Pfau mindestens drei Samenergüsse pro Woche - und zwar bis ins hohe Alter. "Ejakulationen sind gut für die Prostata, den Schwellkörper, die Testosteronproduktion und die Samenqualität", betont der Sexualmediziner. Zudem kommt es beim Orgasmus zur reaktiven Ausschüttung von Hormonen wie Melatonin, Oxytocin, Vasopressin, die wiederum positive Auswirkungen auf den Gesamtorganismus und das Wohlbefinden haben.

Regelmäßige Ejakulationen implizieren zwar nicht per se, dass Mann an sich selbst Hand anlegt, "allerdings klagen in acht von zehn Fällen die Männer in einer Beziehung darüber, dass sie weniger häufig dürfen, als sie wollen. Masturbation ist dabei eine Möglichkeit, jene Bedürfnisse zur Auflösung zu bringen, die in der Beziehung nicht abgedeckt werden können. Deshalb fordere ich nicht die Masturbation, sondern möchte zur Selbstbefriedigung ermutigen, sollte keine ausreichende partnerschaftliche Sexualität möglich sein", betont Pfau. Also ausreichend Gründe, um die "Liebe an und für sich" zu entdecken. (Günther Brandstetter, derStandard.at, 17.10.2013)