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Foto: Reuters/Bektas

Diese Woche ist wieder Fortschrittsberichtwoche. Dann schaut der EU-Kommissar für Erweiterung, wie es in diesem Jahr so gegangen ist mit dem Beitrittsprozess der Türkei (und dem von sieben anderen Kandidaten oder potenziellen Kandidaten). So lala eben. Demokratiepaket gut, Gezi schlecht, noch immer keine neue Verfassung hinbekommen, noch immer acht Kapitel blockiert und keines geschlossen, weil feindselig gegenüber EU-Mitglied Zypern. Mindestens einem in der türkischen Regierung ist das wahnsinnig egal: Yiğit Bulut (sprich: Ji-it), Chef-Wirtschaftsberater von Premier Tayyip Erdogan seit Juli dieses Jahres und der Mann für das besonders Grobe.

"Jöleli", wie er spöttisch vom regierungskritischen Teil des Landes genannt wird wegen des massiven Einsatzes von Haargel ("jöle", Türkisch für "Gel", "Gelee"), aber auch der außerordentlichen Biegsamkeit seiner Weltanschauung, lässt keine Woche vergehen, in der er seine Türkei nicht in den fantastischsten Farben malt - letzte Bastion der muslimischen Welt gegen den Westen, planetare Zukunftsmacht. Den EU-Beitritt der Türkei hat der Mann aus Gel schon abgehakt: unnötig bis sinnlos.

Bulut, 1972 in Keşan, im europäischen Teil der Türkei geboren, kommt aus einer bürgerlich-säkularen Familie. Sein Vater Mustafa zieht 1977 als Abgeordneter der rechtsliberalen Gerechtigkeitspartei von Süleyman Demirel ins Parlament ein. Yiğit Bulut studiert Wirtschaft und Finanzwissenschaften in Ankara und Paris, heiratet in die Verwandtschaft des Medienzaren Aydin Dogan ein und erklärt fortan als TV-Kommentator und Kolumnist die aufstrebende türkische Wirtschaftswelt. Man findet ihn bei CNN Türk, dem mittlerweile fusionierten Wirtschaftsblatt Referans, der liberalen Tageszeitung Radikal, der nationalen Vatan, als Chefredakteur von Habertürk TV und dem Nachrichtensender Kanal 24. Und nach und nach wird der Mann aus Gel vom wirtschaftsliberalen Sprachrohr der säkularen Bürgerlichen zum wirtschaftsliberalen Sprachrohr der Konservativ-Religiösen in der Türkei, die Ende 2002 die Regierung übernehmen. Anderes Milieu, andere Unternehmen, die nun auf der Gewinnerstraße sind, neue Liebe für die neuen Machthaber.

Wie das geht? "Jeder hat einmal eine Zeit der Erleuchtung", erklärt Bulut nach seiner Ernennung zu Erdogans Wirtschaftsberater in einem TV-Interview. "Ich bin zu dem Punkt gekommen, an dem ich jetzt bin, indem ich die Struktur verstanden habe, deren Teil ich war", sagte er - soll heißen: die autoritär-korrupte Ordnung, die das türkische Militär der Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg aufgezwungen habe. "Heute würde ich, wenn es nötig ist, für Erdogan sterben. Es gibt Millionen wie mich. An dem Tag, an dem er 2008 den IWF hinausgeworfen hat, wurde er zum unersetzlichen Führer für mich." (Genauer: Das letzte Schuldenabkommen mit dem Internationalen Währungsfonds lief im Mai 2008 aus. Im Mai dieses Jahres überwies Ankara die letzte Kreditrate von 422 Millionen Dollar an den IWF und ist damit erstmals seit 19 Jahren schuldenfrei.)

In Buluts Welt gibt es nicht länger nur Bilanzzahlen und Aktienindexe, sondern jede Menge Verschwörungen. Wenige Tage nach der gewaltsamen Räumung des Gezi-Parks in Istanbul im Juni dieses Jahres erklärt er in dem Magazin Deşifre des Privatsenders ATV, es gäbe eine starke Gruppe, die versuche, Erdogan mit Telekinese umzubringen - "das ist mir ganz klar". Diese Enthüllung muss den türkischen Premier beeindruckt haben. Einen Monat später macht er Bulut zu seinem Chefberater für Wirtschaftsfragen.

"Jöleli" ist es auch, der glasklar erkannt hat, dass Angela Merkel und die deutsche Lufthansa hinter Gezi stecken, weil sie so sehr Angst haben, mit dem geplanten dritten Flughafen in Istanbul Marktanteile zu verlieren.

Jede Woche schreibt Yiğit Bulut noch seine Kolumne in der konservativ-islamischen Tageszeitung "Star" und überrascht das Publikum. "Liebe Freunde, es gibt eine Wahrheit hinter all den Problemen, die die Türkei zwischen 1938 (Atatürks Tod, Anm.) und 2003 (Erdogan übernimmt die Regierungsgeschäfte von Abdullah Gül, Anm.) hatte: machtlose Regierungen, machtlose Premiers, und gegen sie EIN STARKES ESTABLISHMENT!" Wichtige Aussagen schreibt Bulut in Großbuchstaben, damit man es besser kapiert.

Ende September, als möglicherweise die linksextreme Terrorgruppe DHKP-C eine Granate auf die Zentrale der türkischen Polizei in Ankara feuerte, riss Bulut wieder einmal den Vorhang auf der Bühne weg und zeigte die nackten Tatsachen: "Es gibt eine ALLIANZ DES BÖSEN, bestehend aus Staaten, deren Geheimdienste und 'gewissen inneren Strukturen', und die WAHRHEIT ist sehr klar für den, der weiß, wie er die Dinge zu sehen hat", schrieb er in seiner Kolumne. Unter den immer Verdächtigen im Ausland sind Israel und mittlerweile Syrien, gegen das die Türkei alleine stehe. Im Inland werkt dafür eine "ETABLIERTE INNERE ORDNUNG die unsere materiellen und moralischen Werte von uns stiehlt", die Kurden aufwiegelt und Chaos erzeugen will. Warum das alles schon wieder? "Sie haben ein gemeinsames Ziel: Regierungschef Erdogan aufzuhalten, der ihnen im Weg steht; die Türkei vom Weg abbringen, den sie eingeschlagen hat, um das Größte zu werden ..."

Die Massenproteste während der Besetzung des Gezi-Parks und des Taksim-Platzes in Istanbul waren "nur die erste Welle", erläuterte Bulut auch in einem Interview mit dem konservativ-islamischen Boulevardblatt Yeni Şafak. „Die globale Koalition und ihre Ausläufer innerhalb des Landes wollen, dass Regierungschef Erdogan nicht mehr an der Macht bleibt, jetzt, wo er sein zweites Jahrzehnt beginnt." Der Wirtschaftsberater schöpft aus den Kübeln des Nationalismus und hängt all dem das Etikett des Islam um. "Die islamische Union hatte zwei Pfeiler, der eine war die Türkei, der andere Ägypten", so erfährt man von ihm. "Sie haben den einen gebrochen. Das nutzt Israel am meisten. Alles, was übrig bleibt, ist die Türkei, das Land in der islamischen Welt, das den Islam richtig vertritt. Das nächste Ziel ist die Türkei."

Mehr noch als die Bizarrheiten, die aus Buluts Mund kommen, interessiert vielleicht die Frage, weshalb dieser Mann überhaupt ins Amt des türkischen Premierministers berufen wurde. Tayyip Erdogan hat ganz offensichtlich einen "soul-mate" gefunden, einen Gleichgesinnten, der in den trüben Gewässern der Verschwörungstheorien schippert, möglicherweise auch glaubt, was er der Öffentlichkeit erzählt, vor allem aber weiß, wie man damit Politik macht. Denn auch wenn die Konspirationsideen, die Erdogan seit den Gezi-Protesten zum Besten gibt und die er seine Minister nachplappern lässt, im Westen als lächerlich empfunden werden (es gibt nur wenige, die sich diesem Zwang entziehen; Finanzminister Mehmet Şimşek ist einer von ihnen), so steckt doch Kalkül dahinter: Es geht um die Wähler, die Erdogan für die nächsten zehn Jahre an sich binden will - die frommen Konservativen, die der wundersame Reichtum der Erdogan-nahen Unternehmer und der außenpolitische Crashkurs der Türkei irritiert; und die rechten Nationalisten, denen der Regierungschef eine neue strahlende Größe der Türkei verspricht.

Yiğit Bulut ist die Schnittmenge dieser Wähler, der Dreschflegel des islamischen Boulevards. Er macht Stimmung für die neue Mehrheit. Noch im Frühjahr, kurz vor den Gezi-Protesten, ist einem Funktionär der regierenden AKP der Plan mit der politischen Neupositionierung herausgerutscht. "Jene, die auf gewisse Weise mit uns waren in den vergangenen zehn Jahren unserer Regierung, werden nicht unsere Partner in den nächsten zehn Jahren sein", kündigte Aziz Babuşcu, der Chef der AKP in Istanbul in einer Rede vor Parteimitgliedern an. Es ging um die kleine Gruppe der liberalen Meinungsführer in der Türkei, die säkularen Wähler, die Erdogan und dessen Partei in den ersten Jahren nach 2002 ihre Stimme gaben, weil diese demokratische Reformen versprochen hatten - und auch einlösten. "Obwohl sie uns nicht dulden können - sagen wir, die liberalen Kreise -, waren sie unsere Partner. Doch die künftige Phase des Aufbaus der Türkei wird nicht so sein", sagte Babuşcu. Die 50 Prozent und mehr, die sich Erdogan bisher sicherte, will er sich rechts von der Mitte suchen, offenbar auch um den Preis wilder Verschwörungstheorien.

Für die Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der EU ist in diesem Szenario kein rechter Platz mehr. Sie sind viel zu zäh, lassen die Türkei in der Rolle des Bittstellers erscheinen, verlangen Leistungen, zu denen Ankara noch nicht bereit scheint. "Da sich unsere Wege mit Europa trennen, muss die These klar formuliert werden, dass sich eine neue Struktur herausformt als Alternative zur EU, gemäß der neuen Weltordnung", schwurbelte Yiğit Bulut vor kurzem in seiner Kolumne: "Die Türkei muss die Welt analysieren als eine Welt, die drei neue Zentren hat - Amerika, die Türkei und China ..." (Markus Bernath, derStandard.at, 13.10.2013)