Das Foto einer Fahnenträgerin des jungen weißrussischen Fotografen Andrei Liankijewitsch hat Karriere gemacht.

Foto: Andrei Liankijewitsch

Der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geht an Swetlana Alexijewitsch aus Weißrussland, insbesondere für ihr Buch Secondhand-Zeit. Es handelt vom "Leben auf den Trümmern des Sozialismus", und die Illustration auf dem Umschlag ergab sich fast zwangsläufig: Es ist ein Ausschnitt aus einem Bild, das der junge weißrussische Fotograf Andrei Liankijewitsch gemacht hat.

Fast zwangsläufig, weil kaum ein anderes Bild die Fortführung sowjetischer Ideale und zugleich das merkwürdig Bedrückende daran so klar vor Augen zu führen scheint wie dieser eine Moment, den Liankijewitsch am 7. November 2005 vor dem Palast der Republik in Minsk eingefangen hat. Eine rot gekleidete Frau geht über den Platz, in der einen Hand hält sie eine große rote Fahne mit Hammer und Sichel, in der anderen einen Strauß Blumen. Eine rote Tasche mit den kyrillischen Initialen der fünfzehn Jahre zuvor untergegangenen Sowjetunion, CCCP, hat sie umgehängt. Mit zuversichtlicher Miene schreitet sie nach rechts, aus dem Bild hinaus.

Das Foto, am Festtag der Oktoberrevolution aufgenommen, hat Karriere gemacht. Über die European Press Photo Agency ging es unter anderem an den Spiegel, die FAZ, den STANDARD und auch nach Übersee.

Nur Teil der Geschichte

"Aber das Bild erzählt nur einen Teil der Geschichte", sagt Liankijewitsch, "wie so oft." Das Wichtige befinde sich oft außerhalb des Rahmens. Zum einen meint er das wörtlich: Wie man von anderen Fotos derselben Situation sieht, geht sie mit den Blumen freudestrahlend auf zwei Polizisten zu, sie irrt also nicht einfach nur über den Platz.

Doch es hat mit der Frau noch eine weitere Bewandtnis. Ludmila Kolontaj, so ihr Name, ist, wie Liankijewitsch sagt, ein Waisenkind. 1942 geboren, verlor sie bald beide Eltern – ihre ersten Jahre verbrachte sie in einem Teil der Welt, den der amerikanische Historiker Timothy Snyder in seinem Buch Bloodlands als die mörderischste Region des Zweiten Weltkriegs beschreibt. Ihre ersten Erinnerungen sind an den Hunger, und ihr erstes Glück waren die Milch und das Brot, die sie in einem sowjetischen Waisenhaus bekam.

Hammer und Sichel

Der Sowjetunion verdankte sie Überleben und Nahrung, und das hat sie nie vergessen. Ihr weiteres Leben war von Schicksalsschlägen gezeichnet – ihr Mann starb am Alkohol, ihr Sohn trank ebenfalls. Die Nachbarn wollten sie wegen der Hunde delogieren lassen, die sie in großer Zahl in ihrer Mietwohnung aufnahm. Hammer und Sichel aber blieben ihre Ideale. Und so geht sie an allen offiziellen weißrussischen, das heißt spätsowjetischen Festtagen – und es gibt viele solche Tage – in festlichem Rot, mit Fahne zum Palast, um die Vergangenheit hochleben zu lassen. Und sie geht auf Polizisten zu, und manchmal, wie an jenem Novembertag, überreicht sie ihnen Blumen, damit sie die jungen Protestierenden nicht verprügeln mögen – das gehöre sich doch nicht in einem guten sozialistischen Land.

Nach frustrierenden und gefährlichen Zwischenfällen hat Andrei Liankijewitsch die fotojournalistische Arbeit in Weißrussland aufgegeben und widmet sich heute künstlerischen und kulturdokumentarischen Arbeiten. Er wollte die Frau noch bei späteren Gelegenheiten aufnehmen. Doch nachdem sie in der Stadt eine gewisse Bekanntheit als sonderbare Außenseiterin erlangt hatte, nahm sich die linksoppositionelle bolschewistische Partei ihrer an und marschiert seither mit ihr mit. Der Fotograf hat die Einsamkeit im Nebel nicht mehr vor sein Objektiv bekommen. Ludmila Kolontaj aber hat ein Stück Heimat, einen Kindheitstraum gefunden. (Michael Freund, derStandard.at, 12.10.2013)