Niels Werber: "Ameisengesellschaften. Eine Faszinationsgeschichte", S. Fischer Wissenschaft, 2013

Cover: S. Fischer

Verglichen mit diesem Imperium ist die Menschheit gerade einmal die Neuigkeit der Woche. Es ist schätzungsweise 130 Millionen Jahre alt und zählt zehn Billionen Einwohner: das Weltreich der Ameisen. Angesichts ihres Organisationstalents blickten die Menschen stets fasziniert auf diese Spezies. Bereits Aristoteles adelte dieses Insekt als in einer Hinsicht dem Menschen ebenbürtig: Er sah die Ameise als ein "Zoon politikon" - ein von Natur aus staatenbildendes Lebewesen.

"Diese unterstellte Gemeinsamkeit macht es seit der Antike plausibel, unter den Ameisen nach vertrauten Sozialstrukturen Ausschau zu halten, um dann das, was man finden wollte, in der literarischen oder bildnerischen Repräsentation menschenähnlich zu gestalten", schreibt Niels Werber, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Siegen, der in seiner Untersuchung Ameisengesellschaften den Spuren dieser Faszination in der Kulturgeschichte nachgeht.

Dabei verfährt Werber bewusst nicht chronologisch. Dennoch betont er, dass dieser auf den ersten Blick obskure Forschungsgegenstand wesentliche soziologische und historische Einsichten bringen könne: "Wer sich für die Frage interessiert, welches Menschenbild und welcher Entwurf einer sozialen Ordnung in einer bestimmten historischen Epoche und kulturellen Situation die Diskurse dominieren, erhält von der Analyse des Bildes der Ameisengesellschaft immer eine Antwort."

Ausgehend von einzelnen Texten kontextualisiert Werber den kulturellen Blick auf die Insekten. So werden etwa die zeitgleichen Interpretationen der Ameisengesellschaft bei so politisch auseinanderstehenden Autoren wie Ernst Jünger, Alfred Döblin, Aldous Huxley und dem "Kronjuristen des Dritten Reiches", Carl Schmitt, im Zusammenhang des sich ausbreitenden Totalitarismus gedeutet: Der durchorganisierte Insektenstaat ohne mündige Individuen wird entweder als Erlösung oder als Bedrohung empfunden.

Durch den nichtlinearen Ansatz geht es in diesem dichten Text für den Leser strukturell selbst zuweilen wie in einem Ameisenhügel zu, was in erster Linie der ausufernden Quellenlage geschuldet ist, die Werber aber insgesamt souverän handhabt. Dabei wird auch ein interessantes Stück Wissenschaftsgeschichte beleuchtet: Werber zeigt detailliert, wie seit dem 19. Jahrhundert Soziologie und Insektenforschung regelmäßig Impulse von der anderen Seite der Fachgrenze bekamen.

Schließlich sind uns Ameisen vielleicht noch ähnlicher, als wir uns bei aller Faszination eingestehen möchten: "Wenn das 19. Jahrhundert darüber gestaunt hat, wie eine einzige Königin eine ganze Population spezialisierter Töchter hervorbringen kann, so bewundern wir heute die Schwarmintelligenz einer Gesellschaft, deren Ordnung in Algorithmen überführt wird, die längst in unserem Alltag zum Einsatz gelangen: vom Amazon-Algorithmus bis zur Personaleinsatzplanung." (Johannes Lau, DER STANDARD, 9.10.2013)