Senad und Halida Muminović vor der "Petar Kočić"-Schule: "Uns wird das Recht verweigert, dass unsere Kinder nach dem bosnischen Lehrplan unterrichtet werden."

Foto: DER STANDARD/Wölfl

Gegenüber der blau-roten Tankstelle: Die orthodoxe Kirche, illegalerweise gebaut auf dem Grundstück einer Rückkehrerin.

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Man kann Konjević Polje ziemlich leicht versäumen. Es ist ein Dorf ohne Zentrum. Es gibt nur eine viel zu große blau-rote Tankstelle an der Kreuzung. "Hier! Das ist Konjević Polje", sagt der Tankwart und deutet auf die verstreuten Häuser links und rechts der Straße, die so weit auseinander liegen, als würden sie einander nicht trauen.

Fährt man nach rechts, Richtung Bratunac, einem der Schauplätze des Massenmords im Juli 1995, taucht linkerhand die Schule auf, wahrscheinlich aus den 1970er Jahren. "Love, Mery, Denis, Senada", steht an der Schulmauer. Unterhalb hat jemand spitze Herzchen gezeichnet, die fast wie Vögel aussehen, die gerade ihre Flügel heben, um wegzufliegen. In der Schule in Konjević Polje wurden im Jahr 1995 Menschen gefangen gehalten, bevor sie erschossen wurden. Hier in Podrinje, dem Drina-Tal auf der bosnischen Seite, gibt es kein Dorf, in dem sich die Menschen nicht an die Verbrechen des letzten Kriegs erinnern müssen.

Unterrichtsboykott

Die Schule namens "Petar Kočić" ist leer. Eigentlich sollten alle 158 Sechs- bis 15-Jährigen von Konjević Polje hierher kommen. Doch die meisten von ihnen sitzen seit Schulbeginn, seit fünf Wochen also, zu Hause, sie haben den Herbstbeginn vor dem Computer oder Fernseher verbracht. Sie boykottieren den Unterricht. Weil sich ihre Eltern ärgern.

Die Eltern ärgern sich bereits seit vielen Jahren: Über den Geografie-, Geschichte- und Mutterspracheunterricht. "Die Kinder von der ersten bis zur fünften Schulstufe werden seit 2004 nach dem serbischen Lehrplan unterrichtet", erzählt Halida Muminović. "Uns wird das Recht verweigert, dass unsere Kinder nach dem bosnischen Lehrplan unterrichtet werden", ergänzt ihr Mann Senad Muminović. Ihr Sohn Hamza sollte eigentlich die vierte Schulstufe besuchen. Doch Hamza bleibt jetzt zu Hause.

"Unsere Sprache wird diskriminiert"

Manche Lehrer kämen aus Serbien. Am meisten stört die Eltern aber, dass die Kinder "Ekavica" schreiben sollen. Denn der ekavische Dialekt wird nirgendwo in Bosnien-Herzegowina geschrieben oder gesprochen, sondern nur in Serbien. In Bosnien-Herzegowina spricht man den ijekavischen Dialekt. Man sagt also "lijep" zu "schön" und nicht "lep" wie in Serbien. "Unsere Sprache wird diskriminiert, abgesehen davon, verwirrt die Ekavica unsere Kinder. Sie wissen nicht mehr, wie man schreibt, was man spricht", sagt Papa Muminović. Was die Eltern Muminović aber besonders stört, ist, dass Hamza in der Schule zu wenig vermittelt wird, dass er in Bosnien-Herzegowina lebt, stattdessen wird hier die "Republika Srpska" (RS) als Heimat vermittelt.

Die politische Führung der RS lehnt den gemeinsamen Staat Bosnien-Herzegowina nach wie vor ab und damit hat sich seit dem Krieg (1992-1995) nicht viel geändert. Denn damals kämpften viele bosnische Serben gegen einen gemeinsamen Staat Bosnien-Herzegowina, während viele bosnische Muslime genau für diesen ins Feld zogen. Stattdessen versucht die Führung der bosnischen Serben aus der RS, dem kleineren Landesteil einen Quasi-Staat zu machen und propagiert die Sezession von Bosnien-Herzegowina. Der Schulboykott in Konjević Polje ist damit auch ein Symptom dafür, dass Bosnien-Herzegowina von den einen nicht gewollt wird, während die anderen ihm patriotisch anhängen.

"Die Kinder lernen jeden Fluss und jeden Hügel der RS, aber sie lernen nichts über Bosnien-Herzegowina", empört sich Herr Muminović. Ihn stört auch, "wenn die Kinder nur mehr Gedichte und Lieder von orthodoxen serbischen Schriftstellern wie Dobrica Erić hören. "Gut, sie hören auch von Enes Kišević", nennt Senad Muminović  einen kroatischen Autor. "Aber sonst Orthodoxe und irgendein Japaner", räumt er ein. An den Namen des Japaners, den sein Sohn Hamza in der Schule kennen lernte, kann sich der Papa nicht erinnern.

Verrücktes Bildungssystem

Der Krieg hat ein verrücktes Bildungssystem in Bosnien-Herzegowina initiiert, in dem die Kinder je nach "ethnischer Zugehörigkeit" unterrichtet werden. Es gilt: Je dominanter eine "Ethnie" in einer Region, desto mehr wird der Unterricht davon geprägt. Die Zuständigkeit für die Bildung liebt bei den zehn Kantonen in der Föderation (dem größeren Landesteil) und eben der RS. In Bosnien-Herzegowina mit nur 4,6 Millionen Einwohnern gibt es nicht nur viele verschiedene Curricula, die teilweise aus Serbien und Kroatien übernommen wurden, viele Schüler gehen je nach "Ethnie" getrennt, in verschiedene Schulen.

"Schüler sind die größten Verlierer"

"Wir haben diesen Protest jetzt gestartet, weil wir es nicht mehr ertragen können, dass es sich so entwickelt", erläutert Senad Muminović den Unterrichtsboykott. Es gäbe zu wenig Beamte, die sich für einen ordentlichen Ablauf der Lehrpläne einsetzen würden. Der Bildungsminister der RS, Goran Mutabdžija erklärt wiederum, dass es nicht genügend bosniakische Schüler in Konjević Polje in der Unterstufe gäbe (nur sieben bis elf), um einen Extra-Unterricht für diese Gruppe zu rechtfertigen. Nur in der Oberstufe seien 18 oder mehr Kinder Bosniaken und dort gibt es auch einen "bosniakischen Unterricht". Mutabdžija meint zudem, dass die Angelegenheit politisiert werde und betonte, dass er sich für einen Dialog einsetzen werde. "Die Schüler sind die größten Verlierer in dieser Sache", so Mutabdžija.

Die Eltern von Konjević Polje waren schon im Februar bei ihm in Banja Luka. Zwischendurch wurde ein Kompromiss erzählt und die Kinder gingen doch für zwei Tage in die Schule. "Der Minister hat aber nur wegen der Kameras von Al-Jazeera etwas versprochen", sagt Senad Muminović. "Wir werden jedenfalls nicht mit den Protesten aufhören, bis wir Recht bekommen", ergänzt er. "Auch wenn die Kinder zwei Jahre nicht in die Schule gehen."

Ein Dorf, das zu viel gesehen hat

Konjević Polje ist nicht unbedingt ein Dorf, in dem man Ferien machen möchte, obwohl viele hier nur in den Ferien herkommen. Ein Mann hämmert in dem Café an der Straßenkreuzung auf einen Spielautomaten ein. Manche Häuser haben tiefe schwarze Löcher statt Fenster. Diese Löcher scheinen die Besucher wie leere Augen anzustarren, die nichts mehr sehen wollen. Und Konjević Polje ist sicher ein Dorf, das viel zuviel gesehen hat. Was die Menschen hier in dieser Region trennt, ist in erster Linie die Art, wie an den letzten Krieg erinnert wird. Der Krieg hat einen Interpretationsfilter über alles gelegt. Jedes Detail des Alltags ist von diesem Filter überlagert.

Die Muslime, die hier lebten, flohen im Krieg (1992-1995) in das nahe gelegene Srebrenica, wo tausende Menschen auf dessen Ende warteten, in einer vermeintlichen Sicherheit unter dem Schutz der Uno. Das Ende des Kriegs in Srebrenica hat mittlerweile Eingang in sämtliche europäische Geschichtsbücher gefunden: Eine Chronik eines organisierten Massenmords, ein Versagen der Internationalen Gemeinschaft. Manche Muslime kehrten dennoch danach wieder nach Konjević Polje zurück. Sie fanden sich aber in der neu geschaffenen "Republika Srpska" wieder, jenem Teil von Bosnien-Herzegowina also, der zu Friedensschluss 1995 der "serbischen Seite" zugesprochen wurde.

Erinnerung an Kravica

Heute haben die Muslime die vielleicht irrationale Angst, dass die Kinder von Konjević Polje einmal in Kravica zur Schule gehen müssen. Kravica ist nur ein paar Kilometer, aber Lichtjahre von Konjević Polje entfernt. Denn in Kravica wird völlig anders an den Krieg erinnert. Die Armee von Bosnien-Herzegowina griff am 7. Jänner 1993, dem Weihnachtstag der Orthodoxen, das Dorf Kravica an. 49 bosnische Serben wurden damals getötet, die Häuser zerstört. Ein Denkmal neben der Schule erinnert daran. Und das ist eine Erinnerung, die wiederum die Muslime nicht mit den Serben teilen wollen.

In einem Garten in Konjević Polje rühren ein Mann und eine Frau in einem großen schwarzen Kessel, der über dem offenen Feuer hängt. Aus manchen Kaminen dringt Rauch. Es ist Herbst geworden. Hier oben auf den Almen ist es besonders nass, der Nebel besonders dicht, der Rauch besonders beißend, die Röcke der Frauen besonders lang, und die Trainingsanzüge der Kinder besonders grell. In dem Kiosk kann man zuckersüße einzelne Schokobananen, Chips und Erdnüsse kaufen.

Zwei Kinder gehen an den Händen ihrer Großmutter die Dorfstraße entlang. Ein paar Häuser sind wieder aufgebaut, doch so renoviert und aufgeputzt, dass auch sie Zeugnisse der Zerstörung sind - nur auf eine andere Art. Aus manchen Schornsteinen kommt kein Rauch - das sind die Häuser von jenen Menschen, die in Deutschland, der Schweiz, Schweden oder Österreich leben.

Orthodoxe Kirche soll versetzt werden

Gegenüber der blau-roten Tankstelle steht eine orthodoxe Kirche, die illegalerweise auf dem Grundstück von Fata Orlović, einer bosniakischen Rückkehrerin errichtet wurde, die seit Jahren dafür kämpft, dass die Kirche von ihrem Grundstück wieder wegversetzt wird. In Konjević Polje geht es nicht nur um den fehlenden gemeinsamen Staat, sondern um den Mangel an Rechtsstaatlichkeit. Viele Menschen hoffen hier auf die "Internationale Gemeinschaft" oder die EU. Doch die EU hat das Engagement drastisch zurückgefahren. Bosnien-Herzegowina wird von vielen als "gescheiterter Staat" betrachtet.

Wer war eigentlich Petar Kočić?

Die Eltern Muminović stehen vor der leeren Schule namens Petar Kočić. Wer war eigentlich Petar Kočić? "Wir haben nichts gegen Petar Kočić", sagt das Ehepaar Muminović, "er ist ja aus Bosnien-Herzegowina". Petar Kočić war ein Schriftsteller, hat im Übrigen in Wien studiert und war später Abgeordneter im bosnischen Parlament. Der bosnische Serbe war einer von jenen, die von der Monarchie enttäuscht waren, weil sie nicht seine Hoffnungen erfüllte. Er wandte sich von dem Vielvölkerstaat ab und wurde serbischer Nationalist. Seine Satire "Der Dachs vor Gericht", die sich gegen den Dünkel der österreichischen Beamten in Bosnien-Herzegowina richtete, war um die Jahrhundertwende sehr beliebt in Bosnien-Herzegowina. Heute bietet die Schule in Konjević Polje, die seinen Namen trägt, im Vielvölkerstaat Bosnien-Herzegowina offenbar nicht allen jenen integrativen Raum, nach dem sich schon Petar Kočić gesehnt hatte. (Adelheid Wölfl, DER STANDARD, Langfassung, 7.10.2013)