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Einem unnennbaren Geheimnis auf der Spur: Marion Poschmann, in Essen geboren und in Berlin lebend.

Foto: dpa/Jürgen Bauer

Wien - Der Psychiater Altfried Janich scheint die Unbeholfenheit in Person. Dienst versieht er in einem Barockschloss, das in der DDR als Schüttgutbehälter verwendet wurde. Hinter den Mauern der nach Schimmelpilz und Küchendunst riechenden Anstalt leben "Wendeopfer". Es gibt keinen Hinweis, was Altfried seinen Patienten voraushaben könnte. Das Tragen eines Arztkittels verschmäht er. Vor seinen Augen aber tun sich Lücken auf, Unterbrechungen im Kontinuum der Wirklichkeit.

Marion Poschmann, für Die Sonnenposition soeben mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet, hat ihren Roman um eine leere Mitte herum gebaut. Altfried trägt die Last der Ich-Erzählung. Sich selbst verkleidet er als gutmütigen Dickwanst. Stille Anbetung genießt sein Jugendfreund Odilo, der als Biologe Labormäuse zum Leuchten bringt, nur um sie anschließend zu "strecken" (ihnen das Genick zu brechen). Poschmanns Prosa hat nicht nur das Zerfließen von Oberflächenkonturen zum Thema. Sie selbst ist von höchster Lichtempfindlichkeit.

Nüsse und Tannenreisig

Die Sonnenposition, könnte man sagen, wäre ein Stellplatz mit wenig Erinnerung und gar keiner Zukunft. Die Figuren des Romans leiden. Ausführlich wird die Kindheit typischer "Babyboomer" referiert. Man hält Nachschau in den rheinländischen Spießerwohnungen, es riecht nach Nüssen und Tannenreisig. Zugleich bemächtigt sich der Gegenstände eine gefährliche Kontaminierung. Poschmann schwelgt. Unter ihrem Blick fangen die Begrenzungsstreifen gewöhnlicher Asphaltwege zum Vibrieren an. Wolken bilden fragile Turmbauten. Aus den unscheinbarsten Gegenständen presst die Dichterin Farben und Gerüche im Akkord.

Marion Poschmann (44) kann ihre Herkunft als Lyrikerin nicht verleugnen. Die gleitende Bewegung ihrer Prosa, in der Vergleich auf Vergleich gehäuft wird, feit nicht vor Unfällen. Augen verlieren sich dann "in den Schlieren der golden gestauchten Zeit".

Was für Die Sonnenposition unbedingt einnimmt, ist ihr unmäßiges Ausdrucksbedürfnis. Gegen ein paar Seiten Poschmann verblassen ganze Bestseller-Jahrgänge zu Makulatur. Man ist versucht, dieses völlig ungewöhnliche Shortlist-Buch vor sich selbst in Schutz zu nehmen. Wäre der Roman nicht so ehrgeizig, mit seinem Mehr an Bedeutung unentwegt zu renommieren, er hätte ein Geniestreich werden können.

Der Sonnen aber gibt es zwei. Odilo, Altfrieds Freund, behindert den Erzähler an dessen Entfaltung. In Odilos Sonnenschatten erblüht das wahnsinnige Hobby des Psychiaters. Er jagt motorisiert über Land und macht sich auf die Suche nach Auto-Prototypen, die unter dem Schutz von Tarnanstrichen durch die Gegend glühen.

Verunsicherung bemächtigt sich Altfrieds an allen Fronten. Unter Mühen lernt er zu verstehen, dass ein Brückenschlag in die Welt der Wahnsinnigen unmöglich ist. Dass sein Vater 1945 als Kriegswaise auf Schloss Sonnenstein interniert war, bringt einen anderen Bezugspunkt ins Spiel. Hier sammelte Paul Schreber die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903). Am nämlichen Ort ermordeten die Nazis unzählige psychisch Kranke.

Die Auflösung des Motiv-Geflechts stellt Poschmann an den Anfang. Odilo, der Schlafwandler, ist tödlich verunglückt. Altfried aber wird für den Rest seines Lebens in der Klinik bleiben. Die Sonnenposition ist naturgemäß eine ausweglose. In ihrer Mitte schmilzt beides: Form und Sinn. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 5./6.10.2013)