"Gauging Your Distraction": Der Nutzer macht interaktiv die Erfahrung, wie gefährlich gleichzeitiges Autofahren und SMS-Schreiben ist.

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"Spent": Ein sehr reduziertes Spiel, das vermitteln soll, wie es sich anfühlt, arm zu sein.

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"Phonestory": Das Spiel vermittelt, dass Smartphones unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt werden. Für Markus Bösch "eine Art spielbarer politischer Kommentar".

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Newsgames, also Nachrichten in Form eines Videospiels, sind ein immer beliebter werdendes journalistisches Darstellungsmittel. Marcus Bösch, Onlineredakteur und Autor des Blogs mobile-journalism.com, im Interview über die Zukunft von Computerspielen im Journalismus.

Kraus: Was genau versteht man unter Newsgames?

Bösch: Als Newsgames bezeichnet man Spiele, die im journalistischen Kontext Verwendung finden und bei deren Erstellung journalistisch-ethische Grundregeln eingehalten werden. Das Genre lässt sich in diverse Subgenres unterteilen, die sich zum Teil an den klassischen journalistischen Darstellungsformen orientieren.

Kraus: Sind diese Spiele tatsächlich seriös?

Bösch: Spiele sind nicht per se seriöser oder unseriöser als andere mediale Darstellungsformen. Sie bieten aber im Unterschied zu traditionellen linearen Medien den Vorteil, dass sie interaktive Erlebnisse ermöglichen. Und die hinterlassen meist einen stärkeren Eindruck als die rein passive Rezeption. Bereits Konfuzius wird mit der recht einleuchtenden Aussage zitiert: "Sage es mir, und ich werde es vergessen. Zeige es mir, und ich werde es vielleicht behalten. Lass es mich tun, und ich werde es können."

Kraus: Das heißt, in die Entwicklung werden Journalisten eingebunden, die Fakten und Aktualität prüfen?

Bösch: Es ist sicher zielführend, bei der Erstellung eines Newsgames neben dem Gamedesigner, der sich die Spielidee ausdenkt, dem Grafiker, der sie visuell aufhübscht, und einem Programmierer, der sie technisch umsetzt, auch journalistischen Sachverstand an Bord zu haben. Inwieweit sich verschiedene Fähigkeiten in einer Person vereinen lassen, wird derzeit im Bereich Multimediajournalismus debattiert und ausprobiert.

Kraus: Sind Computerspiele nicht zwangsläufig eine Vereinfachung von oft komplexen politischen Situationen?

Bösch: Sind Zeitungsartikel nicht zwangsläufig vereinfachend? Wie sieht es bei Fernsehbeiträgen aus? Es ist ja gerade die Aufgabe von Journalisten, komplexe und vielschichtige Sachverhalte erklärend für ein Publikum herunterzubrechen. Hier bieten auch Spiele kein Allheilmittel. Sie eignen sich neben der oben erwähnten interaktiven Erfahrung aber gerade auch sehr gut, um komplexe Systeme zu erklären. Das verbreitete Spiel "Sim City" ist ein Beispiel dafür. Durch die eigenhändige Stadtplanung und das direkte Feedback im Spiel erfahre ich mitunter mehr über das Thema als durch das Lesen eines Artikels über Stadtplanung. Und vermutlich - da sind wir wieder bei Konfuzius - ist die Erkenntnis nachhaltiger.

Kraus: Sind Newsgames ein vorübergehender Trend, oder werden sie die Zukunft des Journalismus mitbestimmen?

Bösch: Digitale Spiele sind meiner Meinung nach dabei, das kulturelle Leitmedium des 21. Jahrhunderts zu werden. Sie werden beim Militär, in der Wirtschaft und in der Bildung eingesetzt. Ich bin mir sicher, dass spielerische interaktive Anwendungen ein fester Bestandteil im digitalen Journalismus der nächsten Jahre sein werden. Das Genre Newsgames gibt es seit etwa zehn Jahren. Vergleicht man die gegenwärtigen Spiele mit den Spielfilmen, die Jahre nach Erfindung des Films erstellt wurden, bekommt man einen Eindruck vom Entwicklungspotenzial.

Kraus: Können sie die herkömmlichen Formate Print, Radio und TV in manchen Fällen ersetzen?

Bösch: Ganz bestimmt. Nur: Das müssen und sollen sie gar nicht. Im digitalen Zeitalter bestimmt nicht mehr das Medium die Darstellungsform eines Themas. Es ist genau andersherum. Da jedes Medium eigene Vorteile mit sich bringt, wird die Berichterstattung multimedial, crossmedial oder von mir aus auch transmedial und kann in vielen Fällen, so sinnvoll, nun eben auch interaktive spielerische Anwendungen umfassen.

Kraus: Wie kompliziert ist die Entwicklung solcher Spiele aus technischer Sicht?

Bösch: Das hängt vom Umfang und der Komplexität des Spiels ab. Einfache Newsgames sind in der Erstellung nicht wesentlich komplizierter als interaktive Grafiken, siehe Creating Games for Journalism. Viele Redaktionen sammeln gerade im Kontext des Datenjournalismus erste Erfahrungen mit dem Thema Code. Die Programmierung von Games ist hier aus meiner Sicht der nächste folgerichtige Schritt.

Kraus: Wie teuer ist die Herstellung eines anspruchsvollen, seriösen Spiels?

Bösch: Auch das hängt von Art und Umfang des Spiels ab. Ein sehr einfaches kleines Newsgame kostet in etwa so viel wie die Produktion einer Minute ARD-"Tatort", also 15.500 Euro. Nach oben gibt es keine Grenzen. Das gegenwärtig teuerste Entertainmentspiel "GTA V" hat rund 266 Millionen US-Dollar in der Produktion gekostet. Also mehr, als Jeff Bezos für die "Washington Post" in Gänze bezahlt hat, nämlich 250 Millionen US-Dollar.

Kraus: Können Redaktionen ihre eigenen Newsgames entwickeln, oder kauft man sie immer von externen Entwicklern ein?

Bösch: Wichtig bei Newsgames ist, dass sie eine passende Game-Mechanik besitzen. Es nützt nichts, einen lustigen "Angry Birds"-Klon zu programmieren, bei dem die Vögel nach jedem Level Teile des Syrien-Konflikts erklären. Für die passende Game-Mechanik benötigt man einen Gamedesigner, und den gibt es bislang noch in nahezu keinem klassischen Medienunternehmen. Zielführend ist die Zusammenarbeit von Gamedesigner und Journalist. Damit die sinnvoll zusammenarbeiten können, ist ein gewisses Grundwissen notwendig, damit man auf Augenhöhe kommunizieren kann.

Kraus: Können Sie ein paar Beispiele für gelungene Newsgames geben und das begründen?

Bösch: "Gauging Your Distraction": im Auto gleichzeitig auf den Verkehr achten und SMS schreiben. Viele tun es und erhöhen so die Unfallgefahr dramatisch. Das Spiel ist sicher nicht komplett ausgereift, aber es ermöglicht eine interaktive Erfahrung, die als perfekter Einstieg in ein Thema dient.

"Spent": Wie fühlt es sich an, arm zu sein? Ein sehr reduziertes Spiel fast ohne Grafik schafft trotzdem eine nachhaltige Erfahrung. Überstehen Sie einen Monat in Armut?

"Phonestory": Das tolle, schicke Telefon in Ihrer Hand wurde unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen hergestellt. Eine Art spielbarer politischer Kommentar.

Kraus: Und jetzt ein paar Beispiele für misslungene ...

Bösch: Als ausbaufähig empfinde ich die Spiele, die sehr viele traditionelle Medienanbieter seit bald 20 Jahren offenbar kaum verändert auf ihren Websites anbieten. Da gibt es viele Quizmodule, beispielsweise bei faz.net, und einfache Flashgames, die sich mit ein wenig mehr Gamedesign optimieren ließen. Hier ist noch viel Potenzial, um neue Wege der Wissensvermittlung auszuprobieren.

Kraus: Im Jänner hat Apple das Nachrichtenspiel "Endgame Syria", in dem es um den Bürgerkrieg in Syrien geht, aus dem App-Store genommen. Begründung: Das Spiel sei zu realistisch und verstoße gegen die Nutzungsbedingungen, weil der User die Rolle von Rebellen einnimmt, um das Assad-Regime zu bekämpfen. Was halten Sie von dieser Maßnahme?

Bösch: Die Politik von Apple, kritische, politische oder auch sexuelle Inhalte willkürlich zu zensieren, ist natürlich ein Skandal. Es zeigt die gegenwärtige Macht einzelner amerikanischer Unternehmen. Mobile Inhalte müssen aber natürlich nicht zwangsläufig als Native App publiziert werden. Ich bevorzuge geräte- und betriebssystemübergreifende Web-Applikationen, die sich dank HTML5 in allen gängigen Browsern spielen lassen. (Daniela Kraus, derStandard.at, 7.10.2013)