Während ihrer Japan-Aufenthalte 2011 und 2012 dokumentierten Matthias Wermke und Mischa Leinkauf die leichtfüßig wirkende Eroberung von gut drei Dutzend Bauwerken, darunter Brücken, Hochhäuser und ein Stadion.

Mehr Bilder gibt's in einer Ansichtssache

Foto: Wermke/Leinkauf

Eigentlich als Ausstellungskatalog konzipiert, verleitet das Buch durch die Texte von Xander Karskens und Bettina Klein zum intensiveren Studium der Reisetätigkeiten von Matthias Wermke und Mischa Leinkauf. Es funktioniert wie ein Bildatlas mit Legende zu deren gesammelten Expeditionen und leistet eine beachtliche "Übersetzungsarbeit". Immerhin handelt es sich beim künstlerischen Ausgangsmaterial ja vorwiegend um bewegte Bilder und Skulpturen.

Wermke Leinkauf
Verlag Snoeck Köln
Format 30 x 22 cm, Hardcover
136 Seiten, 250 farbige Abbildungen, 29,80 Euro

Foto: Verlag Snoeck Köln

In Berlin installierten die Künstler temporär eine transportable Schaukel an verschiedenen Orten, um dort zu schaukeln.

Matthias Wermke beim Scheibenputzen der Öffis in Berlin

Matthias Wermke schwimmt nackt über die ehemalige innerdeutsche Grenze in Berlin.

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foto: irina gavrich

"Die wacklige Handkamera, der schnelle Schnitt und Aggressivität sind nicht unsere Sache, mit 'Höher, schneller, weiter' haben wir nichts am Hut", sagt der Berliner Regisseur und Kameramann Mischa Leinkauf. Und doch: Näher dran an den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Seinen Künstlerkollegen, den Maler und Bildhauer Matthias Wermke, sieht man in einem neu erschienenen Bildband nämlich fast ausschließlich in spektakulären Posen in luftiger Höhe. In Weltstädten wie New York, Tokio und Berlin erklimmt er Hochhäuser und Brücken, schaukelt wie ein Trapezkünstler vor bekannten Monumenten oder erobert andere städtische Infrastrukturen, deren Geschichten die Künstler interessieren. Leinkauf übernimmt meist den Part des Dokumentierenden, auch wenn er dafür oft genau so schwindelfrei sein muss wie Wermke.

Mittlerweile sind die beiden Träger des mit 30.000 Euro dotierten Columbus Förderpreises für aktuelle Kunst – und im Wortsinn "Grenzgänger", wie auch der Titel einer gemeinsamen Ausstellung untermauert. Zu sehen gibt es unter anderem den von Leinkauf gefilmten Wermke, wie er nackt vom einen Spree-Ufer ins Wasser springt und über die ehemalige innerdeutsche Grenze bis zum Berliner Reichstag am anderen Ufer schwimmt. "Ich erinnere mich an Bilder der Flucht vor dem Mauerfall. Alle diese Menschen haben Grenzen überschritten. Auch wenn ihre Fluchtversuche gescheitert sind, waren sie im Moment der Flucht wirklich frei. Ich interessiere mich in meiner Arbeit für diesen Moment" , sagt Wermke über diese und viele vergleichbare Aktionen.

Wermke war elf Jahre alt, als die Berliner Mauer fiel. Seine erste Beobachtung: Im Osten, wo er aufwuchs, waren ihre Wände grau, im Westen bunt bemalt. Alles, was danach kam, hätten Soziologen wie Émile Durkheim geschlaumeiert, ist "sozialer Tatbestand". Eine mehr oder minder festgelegte Art des Handelns also. Tatsächlich zog es Wermke sofort auf die bunte Seite, nicht im geografischen Sinn, sondern eben im Handeln. Als Graffiti-Sprayer machte er dem Mausgrau der Städte den Garaus, auch weit über Berlin-Mitte hinaus, und dabei lernte er den gleichfalls sprühenden Ostberliner Mischa Leinkauf kennen.

Dienst und Leistung

Eine andere Szene zeigt Wermke, wie er in Berliner U-Bahn-Stationen die Windschutzscheiben von Zügen putzt. Ein bisschen wie im Klischee eines Balkan-Urlaubs, nur dass er für die aufgedrängte Dienstleistung gar kein Salär erwartet. Leinkauf filmt wieder und hält dadurch den Dialog zwischen Wermke und dem U-Bahn-Fahrer fest:

Fahrer: Was soll denn das jetzt werden, hallo?
Wermke: Ich mache die Scheibe sauber.
Fahrer: Ja und, haben Sie überhaupt einen Auftrag dazu?
Wermke: Wie, einen Auftrag? Stört das denn? Ich mach das nur noch schnell zu Ende, okay?
Fahrer: Man könnte ja vielleicht mal etwas sagen.
Wermke: Wie? Was sollte man denn sagen?
Fahrer: Na zum Beispiel, dass es passiert.
Wermke: Es passiert.
Fahrer: Vorher! Und wer sind Sie überhaupt?
Wermke: Wie bitte?
Fahrer: Und wer sind Sie überhaupt?
Wermke: Mein Name ist Matthias, Matthias Wermke.

Spannender als die Frage nach Personalien ist aber jene, wen man mit der Interpretation dieser Grenzgänge betraut. Juristen tun sich mit der Antwort nicht schwer: Die beiden melden ihre Aktionen nie an, überschreitet also immer wieder auch die Grenzen der Legalität. "Dass wir das tun, hat für uns vor allem pragmatische Gründe. In dem Moment, wo wir um Erlaubnis fragen, tauchen für uns erst die Probleme auf. Bei jungen Künstlern heißt es halt gleich 'Geht nicht', oder es wird zumindest jemand mitgeschickt. Der stört aber bei der Arbeit", sagt Wermke.

Geteilte Irritation

Der niederländische Kunsthistoriker Xander Karskens, der dafür sorgt, dass die Arbeiten der beiden auch in gedruckter Form nachvollziehbar werden, interpretiert freilich anders: Er stülpt Wermke und Leinkauf – in Anlehnung an deren Biografien – die Klassifikation "Post-Graffiti-Artisten" über, teilt nicht ohne Empathie die Freude an der Irritation des Spießbürgertums und holt implizit das juristische Urteil wieder mit ins Boot. Immerhin bezeichnet er ihr OEuvre ja als "Romantische Subversion". So weit, so offensichtlich.

Doch da ist noch die reine Wucht der Bilder, die Wermke und Leinkauf von ihren Städtetrips wie andere Trophäen von einer Safari mitbringen. Und diese spiegeln trotz der Sportlichkeit in ihrem Tun eine überraschende Beschaulichkeit wider, die so gar nichts von einem Baumgartner'schen Sprung aus der Stratosphäre hat. Das Bedrohliche, das zur Sendung im Extremsportkanal taugen würde, interessiert sie nicht. "Alles, was wir zeigen, ist nur ein Angebot, sich anders mit seiner Umgebung zu beschäftigen."

In Tokio gibt es dafür ganz klar ein Überangebot. In ihrer Arbeit Drifter konnten Wermke und Leinkauf die Besteigung von gut drei Dutzend markanter Gebäude realisieren – sie erklommen Brücken, das Yoyogi National Stadium oder etwa den Capsule Tower von Kisho Kurokawa. Übrigens weitgehend unbehelligt von den Behörden. Dennoch nicht in ihrem Angebot für Perspektivenwechsel aus luftiger Höhe: das Tepco-Museum. Bereits im Ansatz waren die beiden daran gehindert worden, es zu erobern. Denn nicht das Gebäude selbst, aber dessen Symbolkraft ist zu hoch nach der Katastrophe von Fukushima. (Sascha Aumüller, Rondo, DER STANDARD, 4.10.2013)