Steh ich unlängst mit einem iranischen Mullah am Fuße einer Treppe. Wir boten einander den Vortritt an, wobei er beteuerte, dass er total verinnerlicht habe, dass Damen hierzulande immer Vortritt hätten.

Ich setzte dazu an, ihm zu erklären, dass der Damen-Vorrang auf der Stiege eine neuzeitliche Erscheinung sei - wobei der früher übliche der Herren den gleichen Grund hatte wie in der Moschee die Platzierung der betenden Frauen hinter den Männern: damit Letztere nicht den Allerwertesten Ersterer vor der Nase haben. Aber ich ließ es bleiben: Dann marschiert er womöglich bei der nächsten Dame, die moderner sozialisiert ist als ich, voran und hat ungerechterweise den Scherben als Rüpel auf.

Für meinen Mullah dürfte sich die Frage eines Wirtshausbesuchs mit einer hiesigen Dame relativ selten stellen, aber die Obsoleszenz betrifft natürlich auch die Regel, dass ein öffentliches Etablissement zuerst vom Herrn, mit der Dame im Schlepptau, betreten wird: ein Relikt aus traurigen Zeiten, in denen wir Frauen unser Viertel noch nicht auch allein obistessen durften, wo und wann wir wollten. O tempora, o mores: Von meiner Großmutter habe ich noch das Wort "hurös" gehört, angewandt auf Frauen, die sich auf der Straße ein Zigaretterl genehmigten. Sie rauchte wie ein Schlot, aber nur in Innenräumen. Was würde ihrem Mund nur entfleuchen, wenn sie am STANDARD-Redaktionshaus vorbeikäme! (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 2.10.2013)