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Tayyip Erdogan mit Ehefrau Emine, die stets mit Kopftuch auftritt.

Foto: Reuters/Sezer

In der Türkei hat das Alphabet nun drei Buchstaben mehr: x, w und q. Nicht für das Türkische, sondern für das Kurdische. "Hun bir xer hatin ne!" (Sie sind willkommen!) auf Ortsschildern hat so manchem kurdischen Bürgermeister bisher eine Gefängnisstrafe eingebracht. Mit dem Demokratiepaket, das der türkische Regierungschef Tayyip Erdogan am Montag vorstellte, sind diese Zeiten vorbei. "Dieses Paket ist das Ergebnis eines elf Jahre langen Prozesses", lobte sich der Premier.

Tatsächlich dürfte der neue Reformkatalog die umfangreichsten und symbolisch bedeutsamsten Schritte bringen, mit denen die seit November 2002 regierende konservativ-islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die Türkei weiter demokratisiert.

Zugeständnisse an die große kurdische Minderheit im Land sollen den Friedensprozess mit der Untergrundarmee PKK retten. Reformen des Strafrechts, gewisse Freiheiten bei Demonstrationen und ein Vorschlag zur Absenkung der hohen Sperrklausel von zehn Prozent bei Parlamentswahlen werden von der EU zweifellos willkommen geheißen und verbessern das Klima bei den Beitrittsverhandlungen. Das fortgesetzt harte Vorgehen der türkischen Polizei gegen die Gezi-Park-Protestbewegung vom Sommer dieses Jahres hat der türkischen Regierung viel Kritik aus Europa und den USA eingebracht.

Mit einer historischen Annäherung an die alevitische Glaubensgemeinschaft im Land will Er­dogan ebenfalls seine Statur als unumstrittener nationaler Führer festigen. Im Sommer 2014 möchte er seinem politischen Freund, Staatspräsident Abdullah Gül, im Amt nachfolgen und möglicherweise für weitere zehn Jahre an der Spitze der Türkei stehen.

Irritiert über Syrien-Kurs

Das Ende des Kopftuchverbots in fast allen öffentlichen Institutionen - das Kopftuchverbot gilt noch für Frauen im Militär, bei der Polizei und für Richterinnen und Staatsanwältinnen - wird die konservative Wählerschaft stärker an Erdogan binden. Sie war zuletzt ­irritiert über den harten Kurs der Regierung gegenüber Syrien, den sie als kriegstreiberisch empfand, und vereinzelte Korruptionsfälle unter AKP-Politikern.

Erdogan und seine Minister hatten das mittlerweile fünfte Demokratiepaket wochenlang angekündigt. Die Vorstellung am Montag vor Abgeordneten und Funktio­nären der Partei hatte sich immer wieder verzögert, zum einen weil Erdogan auf einen innenpolitisch günstigen Moment wartete, zum anderen, weil es offenbar innerhalb der Parteiführung unterschiedliche Ansichten gab. Über das Demokratiepaket soll nun nach dem Beginn der neuen Sitzungsperiode im Parlament am Dienstag abgestimmt werden.

Kein Eid an Schulen mehr

Unterricht auf Kurdisch und in anderen Sprachen der Minderheiten in der Türkei soll nunmehr gestattet sein - allerdings nur in Privatschulen, nicht, wie lange von Kurdenpolitikern gefordert, auch in öffentlichen Schulen. Gleichzeitig erhalten die Kurden Namen von Orten zurück wie etwa Dersim - Schauplatz der Massaker an kurdischen Aleviten 1937 -, die nach dem Militärputsch 1980 umbenannt wurden. Auch der Eid, den Schüler an türkischen Schulen jede Woche im Pausenhof ableisten müssen - "Ich bin Türke, rechtschaffen und arbeitsam" - wird abgeschafft.

Erdogan schlug vor, die Hürde für den Einzug ins Parlament von derzeit zehn auf fünf Prozent abzusenken. Demonstrationen sollen künftig bis Mitternacht legal sein. (red, Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD, 1.10.2013)