Komplexer Roman, heiße Liebe: Peter Henisch.

Foto: Robert Jaeger

Zu seinem 70. Geburtstag hat Peter Henisch einen komplexen Roman geschrieben, der zunächst wie eine unverfängliche Liebesgeschichte daherkommt. Das österreichisch-italienische Studentenpaar Julia und Marco verschlägt es zufällig nach San Vito, in ein Städtchen in der Toskana, das zum Ort ihrer sich entfaltenden Beziehung wird. Im Hotel treffen sie auf Mortimer, einen korpulenten alten Amerikaner mit Bart - il vecchio Hemingway -, der ihnen bei einem weindurchtränkten Abendessen eine unglaubliche Geschichte erzählt. Er sei im Frühjahr 1944 als junger Soldat bei einem Aufklärungsflug getroffen worden, konnte sich aber mit dem Fallschirm retten. Nach der Landung im Schlosspark von San Vito wurde er von der fast doppelt so alten englischen Gouvernante Miss Molly, die bei einer hochadeligen italienischen Familie arbeitete, versteckt - dies unter großem Risiko, denn San Vito war noch unter deutscher Besatzung.

Mortimer verspricht eine Fortsetzung der Erzählung, reist jedoch unter mysteriösen Umständen ab und überlässt es Julia und Marco, die Geschichte allein weiter- und, wenn möglich, fertigzuerzählen. Der Roman ist in der Hauptsache der Versuch des jungen Paares, sich mithilfe seiner Fantasie in die Geschichte von Mortimer und Molly hineinzufühlen. Im Laufe von fünf, sechs Sommern, die sie immer wieder in San Vito verbringen, versuchen sie, das Ganze in ein Drehbuch für einen möglichen Film zu verarbeiten. Die Rekonstruktion und Interpretation der Geschichte - das ist Henischs gelungener erzählerischer Kunstgriff - ist dabei gleichzeitig auf das Engste verbunden mit Julias und Marcos eigener, wechselvoller Beziehung.

Es beginnt damit, dass San Vito offensichtlich ein Spiritus Loci innewohnt, den sie für ihr sehr intensives Zusammensein brauchen. Treffen anderswo - in Verona, Turin oder Wien - fallen sexuell und touristisch katastrophal aus. Nur im renaissancedurchfluteten San Vito gelingt es ihnen, unter Ausklammerung ihrer sehr verschiedenen Lebenswelten, Herkunft und sozialen Erfahrungen, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Die Beschränkung bzw. Fokussierung auf das alte Städtchen und seine wild-idyllische Umgebung erlaubt ihnen - wie ihrer Vermutung nach auch schon Molly und Mortimer 40 Jahre zuvor - eine außerhalb zivilisatorischer Zwänge liegende Liebesbeziehung zu führen. Es ist vor allem das gemeinsame "Fantasiespiel" der Erschließung der "Geschichte, die sich mit jedem Schritt, den sie ihr nachgingen, vor ihnen auftat", das die Beziehung am Leben erhält. Als Marco, inzwischen Augenarzt mit Karrieredrang, die Vermutung aufstellt, dass sie sich die Liebesbeziehung ihrer Vorgänger nur eingebildet haben könnten, wirft Julia ihm vor, ein "Scheißrevisionist" zu sein: "Du willst unsere Geschichte revidieren." Sein Bedenken, dass "die Wirklichkeit nun einmal etwas anders aussieht als die Illusion", beantwortet sie: "Umso schlimmer für die Wirklichkeit."

Es handelt sich aber keineswegs um eskapistische Verweigerung bzw. eine fantasiereiche Flucht vor der Realität. Vielmehr geht es in Henisch' scher Manier um die Rettung vor sumpfiger Verbürgerlichung. Die Arbeit an der Geschichte von Mortimer und Molly, gibt dem jungen Paar Freiheit und Spontaneität, und es ist kein Wunder, dass Marco die Arbeit an ihrem Projekt aufgibt, als er glaubt, sich den Zwängen der "Wirklichkeit" unterwerfen zu müssen. Als er die erotische Beziehung von Mortimer und Molly bezweifelt, bedeutet das für Julia das Aus für die Beziehung. Das letzte Wort ist allerdings nicht gesprochen - der Roman wartet mit einem überraschenden Ende auf.

Die Geschichte von Mortimer und Molly, die hier rekonstruiert wird, ist ganz und gar nicht harmlos. Es handelt sich um eine Liebesgeschichte im Krieg, mit Bomben, Partisanenerschießungen, verriegelten Sonderzügen aus Rom, die in die Vernichtungslager fahren. Auch Julias und Marcos Zeit weist politische Kontexte auf: Aldo Moros Entführung 1978 durch die Brigate Rosse etwa oder der neofaschistische Terroranschlag 1980 im Bahnhof von Bologna. 1944 ermöglicht die Ausnahmesituation in San Vito paradoxerweise die außergewöhnliche Erotik zwischen einem jungen amerikanischen GI und einer fast doppelt so alten Engländerin, aber es ist eine bedrohte, katastrophenumwehte, krisenhafte Idylle.

Stärker noch als sonst bei Henisch zeigt dieser Roman signifikante intertextuelle Bezüge. Die intensive körperliche Beziehung der kunst- und literaturverliebten Molly mit dem einfachen, aber sie anziehenden GI in einem verlassenen Holzhaus erinnert an D. H. Lawrence' Lady Chatterley-Roman, bei dem die Protagonistin den Zwängen ihres Standes zu entkommen sucht. Es finden sich Anklänge an und sogar wortwörtliche Zitate von Hemingway; der Name der Protagonistin Molly stellt eine Hommage an Joyce dar.

Am Schluss des Romans, der mit der totalen Sonnenfinsternis am 11. 8. 1999 zusammenfällt, erkennt man sogar eine Parallele zu Adalbert Stifter, dessen intensive Reaktion auf eine Sonnenfinsternis im Jahr 1842 im Text reflektiert wird. Das Ende der Himmelserscheinung in San Vito ist aber charakteristisch Henisch und gar nicht Stifter. Als die Sonne wieder am Himmel strahlt, sagt Marco: "Siehst du, wir haben sie wieder herbeigevögelt." Solche Bezüge sind nicht bloß literarische Spielereien für Wissende, sondern stellen eine Variante der Ästhetisierung mit durchaus politischem Hintergrund dar: Körperlichkeit und Naturerleben werden emanzipiert und wesentlich.

In einer verdinglichten, dem Zweckdenken absolut unterworfenen Welt hat die Zweckfreiheit politische Funktion. Mit seinem neuen Italien-Roman hat Peter Henisch eine intensive und prekäre Liebesgeschichte geschrieben, deren Lektüre Spaß macht und, man möchte es kaum glauben, Hoffnung vermittelt.   (Walter Grünzweig, Album, DER STANDARD, 28./29.9.2013)