Stammgäste im Espresso Florida in Wien-Hernals (Foto: Peter M. Mayr)
Foto: Peter M. Mayr

Oft sind sie nicht größer als ein Wohnzimmer, und das dominierende Möbel im Raum ist eine massive Schank, hinter der die Wirtin oder der Wirt thront. Die Budel ist aus ebenso rustikalem Holz gezimmert wie die Sessel, die Tische und die Garderobe. Die Luft ist verraucht und die kurze Speisekarte deftig. Der Wein wird aus dem Doppelliter serviert, und einen Chai Latte mit Zimttopping wird man vergeblich bestellen. An der Wand steht ein Dartautomat oder ein Wurlitzer und daneben oft eine Vitrine mit kitischigem Krimskrams und Pokalen. Es gibt sie nicht nur in Wien, aber dort in besonderer Dichte. Der Volksmund sagt Tschocherl zu ihnen.

Arthur Fürnhammer sitzt im Espresso Florida in der Ottakringer Straße und erzählt von seiner Recherche für den "Tschocherl Report". Herausgekommen ist ein Buch mit Geschichten über erdige Lokale, ihre Besitzer und die Stammkunden, deren Träume auch im gesetzteren Alter zumeist welche bleiben. Bebildert hat den Alltag in zwanzig Wiener Tschocherln der Fotograf Peter M. Mayr. Ein Gespräch mit dem Autor über den Tod, Gesellschaftsvoyeurismus und das Daheimsein im Öffentlichen.

derStandard.at: Krebs, Selbstmord und Herzversagen – der erste Beitrag handelt nicht nur vom Espresso Florida, sondern gleich auch vom Tod und dem bittersüßen Umgang der Wiener mit ihm. Zieht sich das vielzitierte Klischee vom morbiden Charme Wiens auch durch die Tschocherlszene?

Fürnhammer: So deutlich wie im Florida nicht. Hier hat sich das Thema aufgedrängt, weil die Partezettel prominent an der Wand hängen. Worauf man aber schon immer wieder stößt, sind die in Wien gängigen Begriffe rund ums Sterben wie "den Arsch aufstellen" und "den Holzpyjama anhaben". Oder "Pompfineberer" für den Bestatter.

derStandard.at: Wenn Sie Stammbesucherin Monique im Buch vom Krebs ihres Harry erzählen lassen, grenzt das nicht schon an Sozialpornografie?

Fürnhammer: Das ist vielleicht kein unberechtigter Einwand. Wenn man sich aber für diese Lokale und dieses Milieu interessiert, kommt man automatisch in diesen Bereich. Würde man den Vorwurf gelten lassen, könnte man solche Reportagen nie machen. Man dringt in eine eigene Welt ein und, obwohl es ein öffentliches Lokal ist, auch in die Privatsphäre der Menschen. Natürlich will man etwas von ihnen. Manchmal sind wir auch abgewiesen worden. Aber wir haben schon versucht, das nicht aus einem Voyeurismus heraus zu machen und die Leute nicht vorzuführen.

"Es warad interessanter am Freitag", ruft plötzlich Reini, der Chef des Florida, zu uns herüber. Er spielt auf den Interviewtermin an, den er dann für sinnvoller gehalten hätte, weil freitags immer mehr Publikum im Lokal ist. Am Montag aber sitzen nur an einem der sechs Tische ein paar Stammgäste. "Freitag warad günstiger", wiederholt Reini laut, "da könnt ma a paar Sketches aussehaun, a paar Wuchtln. Da geht a bissl was."

"Dekoriert ist fast das ganze Jahr", sagt die Kellnerin im Florida, "weil Geburtstag hat immer wer." (Foto: Peter M. Mayr)
Foto: Peter M. Mayr

derStandard.at: Sie schreiben über die Atmosphäre in den Tschocherln, von Altwiener Gemütlichkeit und vom familiären Verhältnis zwischen Gästen und Besitzern. Sind das Eigenzuschreibungen der Leute oder haben Sie das persönlich so wahrgenommen?

Fürnhammer: Den Eindruck gewinnt man zwangsläufig, und er ist während der Reportagen immer deutlicher geworden. In jedem zweiten Lokal ist das Wort "Familie" gefallen, der Chef ist oft der "Papa" oder die Chefin die "Mama". Diese Wärme spürt man, und sie hat das Image von Tschocherln für mich schon zum Positiven gedreht.

derStandard.at: Wie sind Sie zur Buchidee gekommen?

Fürnhammer: Nachdem ich vor drei Jahren in die Nähe des Yppenmarkts gezogen bin, ist mir aufgefallen, dass es von diesen Lokalen einige in der Gegend gibt, das Engelmaier und das Messner sind auch in der Nähe. Irgendwann habe ich zum Peter gesagt: Lass uns einmal reinschauen, da stecken sicher viele Geschichten drin. Der Antrieb war die Neugierde über eine Welt, an der wir außen täglich vorbeigehen und die uns innen doch fremd ist. Wir haben dann für die Straßenzeitung "Augustin" eine Reportageserie gestaltet, und der Chef des Löcker-Verlags war sofort angetan, ein Buch daraus zu machen.

derStandard.at: Wonach haben Sie die Tschocherl dann ausgewählt?

Fürnhammer: Im Vorbeigehen oder -fahren merkt man schon, ob ein Lokal ein potenzieller Kandidat ist. Die Kriterien haben sich dann mit der Zeit entwickelt. Wenn auf der Speisekarte nur ein Toast und Würstel stehen oder es gar nichts zu essen gibt, das Lokal schon im Morgengrauen aufsperrt und fast nur Stammgäste drinsitzen, kann man mit ziemlicher Sicherheit von einem Tschocherl sprechen. Die Grenze zu Beisln ist nicht scharf, aber dort gibt es mehr Laufkundschaft und meistens eine eigene Küche.

High-End-Stereotechnologie aus einem anderen Jahrhundert: Die CD-Jukebox im Florida. (Foto: Peter M. Mayr)
Foto: Peter M. Mayr

derStandard.at: Der "Tschoch" steht auch im Duden, als umgangssprachlicher Austriazismus für "große Mühe". Ein Verweis auf das Tschocherl als Treffpunkt der Hackler?

Fürnhammer: Die soziale Herkunft der Gäste in vielen Lokalen würde dafür sprechen. Es gibt allerdings auch eine Interpretation, die sich von "tschechern", also vom Alkoholkonsum herleiten lässt. Der Begriff "Tschecherl" ist ja auch weit verbreitet.

derStandard.at: Gibt es einen eigenen Tschocherl-Jargon?

Fürnhammer: Wir haben viele neue Vokabeln gelernt wie "Brandineser", eine Verballhornung von "Branntweiner". Tschocherl sind mit Sicherheit eines der letzten Milieus, in denen der derbe, unverfälschte Wiener Schmäh noch daheim ist. Da braucht man nur hier hinhören.

An der Schank wird der Chef wieder lauter, das Thema ist die Revitalisierung der Ottakringer Straße. "Wos i da sogn wü, des müssts schreiben: Jetzt haben s' des Trottoir acht Meter breit gmacht, und de Leut gehn no imma dort, wo s' früher gangen sind. Dort is das Trottoir kohlschwarz, und auf dem Stückl daneben, des' dazubaut ham, damit de Parkplätz im Oasch san, da geht ja kana, des is blütenweiß. Wer braucht bittschön an acht Meter breites Trottoir?", fragt Reini eher rhetorisch in die Runde. "Und alle Telefonhäusln san verschwunden. Des nächste is jetzt beim Berger-Platz, beim Wiaschtltandler. Wenn da was passiert! Des is a Lebensretter!"

Herr Reini, der Chef, schaut, was sich draußen auf der Ottakringer Straße tut. (Foto: Peter M. Mayr)
Foto: Peter M. Mayr


derStandard.at: Sie stammen aus Oberösterreich. Sind die kleinen Lokale dort vergleichbar oder haben die Wiener Tschocherl etwas Spezifisches?

Fürnhammer: Das Klientel ist sicher ähnlich, und auch die Atmosphäre. Ich würde bei den Tschocherln eher von einem Phänomen sprechen, das in großen Teilen Österreichs und Deutschlands verbreitet ist.

derStandard.at: In anderen Ländern gibt es so etwas gar nicht?

Fürnhammer: Ich kann es nicht ausschließen. Aber ich habe einige Jahre in New York gelebt, und diese Lokale, in denen fast nur Stammkundschaft sitzt, gibt es dort kaum. Da ist alles auf Umsatz ausgerichtet, und niemand könnte Stunden bei einem Bier oder einem Kaffee sitzen. Dieses Wohnzimmerhafte und die Möglichkeit des Daheimseins in einem allgemein zugänglichen Lokal haben bei uns sicher eine eigene Stellung.

derStandard.at: Am Sonntag ist Nationalratswahl. Wie würden Sie das Wahlergebnis beim Publikum eines typischen Tschocherls einschätzen?

Fürnhammer: Das ist schwierig zu beantworten, ohne Vorurteile zu bedienen. Ich habe es bei unseren Besuchen auch nicht auf politische Diskussionen mit den Gästen angelegt. Wenn ich mir aber anschaue, was der Reini von der neuen Ottakringer Straße hält, wird er die Grünen wahrscheinlich nicht wählen. (Michael Matzenberger, derStandard.at, 25.9.2013)