Jessy Lanza zeigt, dass Soul zeitlos und alles andere eine Frage der Arrangements ist.

Foto: Tim Saccenti

Jessy Lanza kommt aus der ehemaligen kanadischen Schwerindustriestadt Hamilton am Ontariosee. Diese darf man sich wohl ungefähr so vorstellen, wie wenn man im größenmäßig vergleichbaren Linz die Stahlwerke zu Freizeiterlebnisparks umgestaltet und auf dem Pöstlingberg Wein anbaut. Hamilton hat den einzigen nennenswerten Weinbau Kanadas vorzuweisen. Eine Universität gibt es dort auch, das Nachtleben lugt also auch dank der angehenden Jungakademiker und der nun statt Stahlküchen prosperierenden medizinischen Zulieferungsindustrie in Richtung globalisierten Nachtlebens und Bars und Clubs mit Schirmchen in den Gläsern.

Lanza trägt alldem Rechnung. Gemeinsam mit Elektronikproduzent Jeremy Greenspan von den sanftmütigen und international etablierten Junior Boys bewegt sie sich auf ihrem Albumdebüt Pull My Hair Back auf den Spuren einer Moderne, die gerade auch in der aktuellen Popmusik ihre Wurzeln mehr denn je in der Vergangenheit hat. R'n'B als Fortführung von Soul und Disco geht zurück bis in die 1980er-Jahre. Faserschmeichelnde Gefühligkeit, edle Ausstattung und die Tänzer fordernde Beats gehen Hand in Hand mit zweckoptimistischen Heilsversprechungen für die Zukunft. Das wird dann oft auch als Kapitalismus gekoppelt mit Hedonismus verkauft, die ganze Angelegenheit ist aber ebenso regelmäßig von dumpfen Parolen der Sieger im Wettstreit um Liebe, Geld und alles, was dazwischenliegt, beschattet. Man erinnere sich nur an die opernhaften Dramen des Genregottes R. Kelly. Ein wenig Weinerlichkeit und Einsamkeit im Millionärsloft darf dabei natürlich auch nicht fehlen.

Anders als finanziell ungleich kräftiger ausgestattete Kolleginnen wie Beyoncè versucht die an Jazz geschulte und als Musiklehrerin tätige Jessy Lanza aber erst gar nicht, mit ihren Geschichten vom wechselhaften Schicksal einer Sängerin zu erzählen, die sich auf ihrem Weg nach oben ganz schön hart durchboxen muss, weil die Zeiten hart und ihre Kerle gemein zu ihr sind. Lanza bricht ihre Textbotschaften vielmehr radikal zu schablonenhaften Aussagen wie "Ich warte vor dem Telefon auf deinen Anruf" herunter. Bloße Zitate aus der Popgeschichte reichen schließlich längst, um beim Hörer die üblichen Assoziationen auszulösen. Der mechanisierte Ausdruck und die normierte Rezeption finden auch in einer Maschinensprache ihre Entsprechung, die auf vertraute Muster baut, ohne diesen strikt zu folgen.

Nach bewährtem Muster

Immerhin hat Jessy Lanza für ihr Album das in London ansässige, ursprünglich für abstrakte Tanzmusiken zuständige Label Hyperdub gefunden. Dessen Chef Steve Goodman ist nicht nur Universitätslektor und Autor der einflussreichen theoretischen Schrift Sonic Warfare. Sound, Affect, And The Ecology Of Fear. Er weiß also um die mittelbare psychologische Wirkung bestimmter Musiken. Als selbst unter dem Künstlernamen Kode 9 veröffentlichender Musiker weiß er auch um die Effekte bei Dubstep und die Folgen für bassbetonte elektronische Musik.

Bei den Songs von Jessy Lanza wird nach bewährtem britischem Muster abgespeckt. Minimales Pochen, karge Arrangements, die die Schwülstigkeit und Opulenz des Hitparaden-R'n'B nur vage andeuten, aber durch erwähnte normierte Rezeptionsmuster sofort hinreichend erkennbar machen, gehen Hand in Hand mit einem gehauchten Nichts von Stimme. Das schafft Nähe. Es stellt außerdem in Aussicht, dass sich die gesangstechnisch ähnlich versierte Kylie Minogue für einen zweiten Bildungsweg im hippen Dancefloor-Underground bereitmachen könnte. Das Ganze klingt nicht nur retrogardistisch modern, sondern natürlich auch sehr zeitgenössisch. Der durchaus vergleichbare britische Autoren-Dubstepper James Blake hat ja kürzlich auf seinem aktuellen zweiten Album Overgrown ebenfalls klargemacht, dass Soul zeitlos und alles andere eine Frage der Arrangements ist.  (Christian Schachinger, Rondo, DER STANDARD, 20.9.2013)