Was ist wichtiger: die Verfehlungen korrupter Politiker ahnden oder Zerwürfnisse in der Gesellschaft vermeiden? Nimmt die Demokratie Schaden, wenn Schuldige ungestraft davonkommen? Oder ist der Schaden größer, wenn relevante Teile der Bevölkerung den Eindruck bekommen, ihre Vertreter würden verfolgt und gehetzt? In Italien wird diese Frage im Hinblick auf Silvio Berlusconi zurzeit hitzig diskutiert. Keiner, der in Rom zu Besuch ist, entgeht der Auseinandersetzung. Aber in abgeschwächter Form gilt das Problem auch für Österreich, wo etliche Prominente ebenfalls mit Korruptionsvorwürfen zu kämpfen haben und nach Ansicht vieler eigentlich hinter Schloss und Riegel gehören.

Der ehemalige Ministerpräsident Berlusconi hat im Laufe der Jahre nicht weniger als 360 Millionen Euro an Steuern hinterzogen und war in 43 Strafverfahren angeklagt. Die meisten sind freilich indessen verjährt, weil die Anwälte des Cavaliere es immer wieder schafften, die Prozesse in die Länge zu ziehen, oder dieser selbst für eine entsprechende Änderung der Gesetze sorgte. Zur Last gelegt werden dem schillernden Milliardär neben Steuerhinterziehung auch Sex mit Minderjährigen, Bestechung von Richtern und Kauf von Abgeordneten.

Alldem steht freilich die Tatsache entgegen, dass Silvio Berlusconi von über zehn Millionen Italienern gewählt worden ist und dass seine Anhänger nach wie vor hinter ihm stehen. Sie sehen in der Prozessflut einen Rachefeldzug kommunistischer Richter, die den Anführer einer großen politischen Bewegung mundtot machen wollen. Der Staatspräsident, verlangen sie, soll den Mann begnadigen, der so viel für Italien getan hat, auch wenn dieser die Voraussetzungen dafür nicht erfüllt, nämlich die Strafe anzunehmen.

Das Resultat des Ganzen ist eine tiefe Spaltung der Gesellschaft. Besorgte Kommentatoren sprechen von einem drohenden Zerfall des Landes. Schlimmer noch: Die zwanzig Jahre, in denen der Cavaliere die Politik geprägt hat, haben die moralischen Standards unterhöhlt. Die Leute glauben jetzt, es ist okay, keine Steuern zu bezahlen, sagt ein bekannter Publizist. Und es ist okay, wenn jeder nur auf sich schaut und sich keinen Deut darum schert, was aus den anderen wird. Den Staat austricksen ist geil. Und Solidarität ist von gestern.

Lange Jahre bildete die starke italienische Linke ein Gegengewicht gegen diese Art zu denken. Das ist vorbei. Wenn irgendjemand den Italienern derzeit ein anderes Gesellschaftsmodell vor Augen führen kann, dann ist es der neue Papst, Papa Francesco. Der Mann aus Argentinien, der nun auf Dauer zwei Zimmer im ziemlich hässlichen vatikanischen Gästehaus bewohnt, ist zu einer Art Anti-Berlusconi mit seinen vierzehn Luxusvillen geworden.

Ein italienisches Problem? Ja und nein. Auf seine Weise haben sich der Fall Berlusconi und seine Folgen zu einem Lehrbeispiel für ganz Europa entwickelt. Er zeigt auf, dass Vorbilder wichtig sind. Dass die Maxime "Wer das Gold hat, macht die Regeln" gefährlich ist, auch wenn man deren Verfechter Frank Stronach Gott sei Dank mit Silvio Berlusconi in keiner Weise vergleichen kann. Und dass niemand, auch die Österreicher nicht, gegen die Versuchung "Bereichert euch, egal mit welchen Mitteln" gefeit ist. (Barbara Coudenhove-Kalergi, DER STANDARD, 19.9.2013)