Ein Bild, das so oder so ähnlich gern herangezogen wird, um das Problem "Überbevölkerung" zu illustrieren. Filmemacher Werner Boote macht im Gewimmel auf dem Zug in Bangladesch, der Pilger transportiert, jedoch eine ganz andere Erfahrung: jene von Geborgenheit in der Menge.

Foto: Thimfilm

Ein Geraune aus dem Off eröffnet den Film: "Oioioi - ist die Erde zu klein? Oder sind da zu viele Menschen auf meinem Planeten?" Was nach einer göttlichen Intervention klingt, wird umgehend zum Monolog eines Icherzählers:

Der Wiener Filmemacher Werner Boote, der die Erde zuletzt 2009 als vermüllten, verseuchten Plastic Planet ins Visier nahm, wendet sich nun den Erdbewohnern zu, die angeblich nicht allein aufgrund ihres Lebenswandels, sondern ob ihrer schieren Anzahl die Zukunft der Welt gefährden.

Wie in Plastic Planet verkörpert der Filmemacher dabei wieder den verschmitzt-unbequemen Fragesteller. Auch Population Boom steht also in jener dokumentarischen Tradition, die vor allem der Amerikaner Michael Moore (Roger and Me; Bowling for Columbine) populär gemacht hat. Dass die Dokumentaristen dabei nicht nur Provokationsagenten, sondern tendenziell auch Selbstdarsteller sind, macht die Ambivalenz dieses Zugangs aus.

Werner Boote lässt sich zunächst - etwa im Gespräch mit einem UN-Vertreter in New York - auf jenen Diskurs ein, der das Fanal der Überbevölkerung beschwört. Es ist dies eine Sichtweise, welcher der reisende Reporter bald als Herrschaftsideologie zu misstrauen beginnt. Schließlich führt sie zwangsläufig zur Frage "Wer von uns ist zu viel?", zielt auf Selektion ab und auf Machterhalt.

"Planung" statt Kontrolle

Der ostentativ zweifelnde Filmemacher begibt sich also nach den USA in andere Weltgegenden. In Mexiko, der Volksrepublik China oder Kenia ortet er in der Folge unterschiedliche Auswirkungen staatlicher Geburtenkontrolle, die man euphemistisch lieber "Familienplanung" nennt. Dabei kommen auch die Interessen von Konzernen ins Spiel, die mit dem Verkauf von Verhütungsmitteln in Länder der sogenannten Dritten Welt gute Geschäfte machen.

Die Kamera (Dominik Spritzendorfer) bleibt bei dieser Reise um den Globus auf den gut eingeführten Protagonisten konzentriert - egal, ob dieser sich den Weg durchs Verkehrsgetriebe von Manhattan bahnt oder in der menschenleeren Steppenlandschaft von Kenia zum Pünktchen wird.

Boote trifft Aktivisten, Amtsträger und Betroffene. In manchen Fällen - wie beim etwas gespenstisch anmutenden Termin mit chinesischen Familien- und Bevölkerungsplanern - bleibt der Effekt der Unternehmung eher vordergründig. Dass eine Interviewpartnerin in Kenia auf die Frage, weshalb sie nicht mehr als zwei Kinder wolle, sichtlich verlegen antwortet, kann man so wahrnehmen, als würde sie Rechtfertigungsdruck verspüren - der Film insinuiert aber einen unerfüllbaren Kinderwunsch.

Im letzten Teil von Population Boom, wenn kritische Wissenschafter wie die US-Amerikanerin Betsy Hartmann oder der Österreicher Wolfgang Lutz (Interview Seite 14) zu Wort kommen, wird leider nur angerissen, dass nicht die sogenannte Überbevölkerung das Problem sei. Der Planet leide viel mehr unter dem Produktionssystem und dem Konsumverhalten des Westens (Stichwort: Klimawandel) - und ein Großteil seiner Bevölkerung sei von Verteilungsungerechtigkeit betroffen.

Der Filmemacher hat am Ende dieser Weltreise sein ganz persönliches Erweckungserlebnis: Unzählige helfende Hände hieven ihn hinauf aufs überfüllte Dach eines Personenzuges in Tongi in Bangladesch - nach Ende eines muslimischen Feiertags, zu dem rund fünf Millionen Menschen angereist waren. Dort oben genießt der Österreicher dann ein Bad in der Menge der ganz besonderen Art. Auch visuell ist er hier im Wimmelbild aufgegangen. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 18.9.2013)