"Der Körper wird nicht mehr als gottgegeben und unveränderbar betrachtet", sagt der Sozialwissenschafter Herbert Gottweis. Er hat bereits seine eigenen Gewebeproben archivieren lassen.

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STANDARD: Herr Gottweis, was sind Biobanken, und wie viele gibt es weltweit?

Gottweis: Biobanken sind Archive - Sammlungen von Blut- und Gewebeproben, genetischen Daten und Krankengeschichten, das variiert je nach Typus der Biobank. Die Idee ist: Diese Sammlungen sollen die medizinische Forschung unterstützen, um neue Medikamente und Therapien zu entwickeln. Das Anwendungsfeld ist breit. Es reicht von Krebs über Diabetes bis hin zu Stoffwechselerkrankungen. Wie viele Biobanken es weltweit gibt, hat noch niemand gezählt. Es sind auf jeden Fall tausende, allein in Europa hunderte.

STANDARD: Europa ist im Bereich der Biobanken führend - warum?

Gottweis: Das hat historische Gründe. Biobanken sind vor allem dort entstanden, wo es medizinische Universitäten mit pathologischen Instituten gab bzw. gibt und über Jahrzehnte routinemäßig Gewebeproben archiviert wurden. Europa hat in diesem Feld eben eine stärkere Tradition als andere Kontinente wie etwa Amerika und Asien.

STANDARD: Das gilt auch für Österreich?

Gottweis: Absolut. Die Biobank an der Medizinischen Universität Graz ist eine der größten weltweit und geht auf die Pathologie der österreichisch-ungarischen Monarchie zurück. Im europäischen Biobankennetzwerk BBMRI ist Graz ein Knotenpunkt und Exzellenzzentrum.

STANDARD: Die Proben aus der k. u. k. Zeit existieren noch?

Gottweis: Ja, man kann mit ihnen sehr interessante Untersuchungen durchführen. Man kann sich das wie eine Bibliothek vorstellen: Manche Bücher sind alt, andere neu - und alle zusammen ergeben ein möglichst vollständiges Bild menschlicher Krankheiten.

STANDARD: Was werden Biobanken an der medizinischen Praxis verändern?

Gottweis: Wir wissen, dass ein großer Prozentsatz der verschriebenen Medikamente wirkungslos ist - schlichtweg deshalb, weil Patienten aufgrund ihrer Erbanlagen unterschiedlich reagieren. Mithilfe der Biobanken wäre eine maßgeschneiderte Medizin möglich. Patienten sollen in Zukunft nur mehr jene Medikamente erhalten, die wirklich für sie passen. Und natürlich gibt es auch das Ziel, die Medikamente selbst zielgenauer zu machen. Um das zu erreichen, bedarf es nicht nur großer Sammlungen von Geweben und genetischen Daten, sondern auch solcher von Patientengeschichten.

STANDARD: Wie ist die Sammlung medizinischer Proben in Österreich rechtlich geregelt?

Gottweis: Von einem Patienten dürfen nur dann Gewebeproben archiviert werden, wenn er oder sie eine Einverständniserklärung unterschreibt. Ähnliches gilt für den Datenschutz: Biobanken dürfen ihre Daten natürlich nicht an Firmen verkaufen.

STANDARD: Würden Sie einer Probenentnahme im Krankenhaus zustimmen?

Gottweis: Ja, das habe ich bereits getan. Ich war vor einiger Zeit am AKH Wien in Behandlung und habe dort eine Einverständniserklärung unterschrieben - so wie das die meisten tun. Unsere Untersuchungen zeigen nämlich: Patienten stimmen sehr häufig einer Probenentnahme zu, um die Wissenschaft zu unterstützen. Die Bereitschaft ist in allen Kulturkreisen hoch, in Deutschland und Schweden ebenso wie in Großbritannien oder China.

STANDARD: Biobanken werden oft von der öffentlichen Hand finanziert. Sollen private Firmen mit diesen Daten Gewinn machen?

Gottweis: Das ist eine wichtige Frage. Der Staat investiert üblicherweise in Grundlagenforschung - Universitäten, Professuren, Krankenhäuser. Aber er kann nicht auch noch in die Medikamentenentwicklung investieren. Wenn Sie heute ein neues Krebsmedikament auf den Markt bringen wollen, dann benötigen sie dafür Milliarden Euro. Das muss der Staat der Privatwirtschaft überlassen, was durchaus im Sinne der Gesellschaft ist: Denn wir hätten nichts von der Grundlagenforschung, gäbe es niemanden, der in klinische Versuche investiert. Natürlich darf es nicht so sein, dass nur der Staat zahlt und die Pharmafirmen Gewinne machen. Man muss eben entsprechende Partnerschaften finden. Eine Forderung könnte lauten: Medikamente müssten im Gegenzug billiger werden.

STANDARD: Zum Beispiel?

Gottweis: Ein Behandlungszyklus mit dem häufig eingesetzten neuen Krebsmittel Herceptin kostet heute 140.000 Euro pro Patient. Das ist exorbitant. Hier könnte man natürlich über eine andere Preisgestaltung reden.

STANDARD: Der Trend bei Biobanken geht in Richtung internationaler Vernetzung: Alle Forscher sollen auf alle Daten zugreifen können. Verträgt sich das mit der kompetitiven Ausrichtung der Wissenschaft?

Gottweis: Ja, weil alle von der Vernetzung profitieren. Angenommen, Sie forschen an einem bestimmten Leberkarzinom: Auch wenn Sie an einem Institut mit einer sehr großen Biobank arbeiten, passiert es sehr schnell, dass die Anzahl der notwendigen Samples zu gering ist. Dafür sind tausende oder zehntausende Proben notwendig. Und dafür sind eben auch die Biobanken aus anderen Ländern notwendig. Ohne internationale Zusammenarbeit kommt man mit der Forschung auf diesem Gebiet nicht weiter.

STANDARD: Sie haben kürzlich einen Beitrag in dem Band "Bios und Zoë - Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit" publiziert. Der Untertitel war wohl nicht zufällig an Walter Benjamin angelehnt: Hat der Körper, um bei Benjamin zu bleiben, seine "Aura" verloren?

Gottweis: Ich glaube nicht, dass er seine Aura verloren hat. Aber seine Wahrnehmung hat sich verändert, der Körper ist heutzutage mehr "Material" als früher, er ist durchschaubarer. Manche bezeichnen Biobanken als "society in a freezer", als "Gesellschaft im Kühlschrank", weil darin die gesamte Bandbreite körperlicher Variationen gelagert ist. Nur in diesem Sinne ist der menschliche Körper reproduzierbar geworden: Man kann nun auf Gewebeproben aus vergangenen Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten zugreifen. Dieser Kulturwandel findet im Übrigen auch auf anderen Ebenen statt, nicht nur in der Medizin. Der Körper wird nicht mehr als gottgegeben und unveränderbar betrachtet. Sehen sie sich die jungen Menschen an: Tattoos, Piercings, Schönheitsoperationen, das ist heute alles ganz normal. Und niemand hat den Eindruck, wir würden die Kontrolle über diese Entwicklung verlieren. (Robert Czepel, DER STANDARD, 18.9.2013)