Wien - Der Doyen der österreichischen Anglisten, Franz Karl Stanzel, vollendet am 4. August sein 80. Lebensjahr. Seit vor fast 50 Jahren Typische Erzählsituationen im Roman erschien, haben Generationen von Literaturwissenschaftern in aller Welt Stanzels erzähltheoretisches Modell beim Lesen von Erzählwerken genutzt.

Sein Rückblick auf ein halbes Jahrhundert Narratologie mit wissenschaftsgeschichtlich höchst aufschlussreichen Ausführungen in Unterwegs: Erzähltheorie für Leser vermittelt ein Bild von Stanzels urbaner Auseinandersetzung mit Dichtungslogikern, Narratologen und Linguisten und illustriert seinen Zugang zu Erzähltexten der Weltliteratur, die mit seinen erzähltheoretischen Konzepten strukturalistischer Herkunft präziser beschrieben, in ihren ästhetischen Wirkungen besser erschlossen werden können.

Stanzels Rolle als Pionier der Literaturwissenschaft beschränkt sich freilich nicht nur auf die Erzählforschung: Er hat die Funktion und Verbreitung von Nationalstereotypen in der Literatur untersucht und zur Anerkennung der literarischen Imagologie als wichtiges Arbeitsfeld in der Kulturwissenschaft beigetragen. Anregungen aus der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung aufgreifend, hat er die Genese und Tradierung des literarischen Bildes fremder Völker als (allzu) häufig gegen Aufklärungstendenzen resistente Domäne literarischer Praxis analysiert.

Sein aus den Erlebnissen seiner Generation gespeistes Interesse an der literarischen Darstellung des Krieges hat komparatistische Beiträge zur Gestaltung des Ersten Weltkrieges in der Literatur inspiriert. Und seine persönliche Erfahrung als Kriegsgefangener hat ihn zur Bearbeitung eines weiteren Forschungsfeldes, der viel beachteten Literatur Kanadas, veranlasst. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2./3. 8. 2003)