Mark Milley: "Die Streitkräfte sind in schwere Kämpfe verwickelt und erleiden beträchtliche Verluste. Auf drei Verwundete kommt ein Toter."

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Afghanische Soldaten beim Training in Kandahar.

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Am 18. Juni übergab die ISAF ihre Sicherheitsverantwortung an Afghanistan. (Bild: Mitglieder der afghanischen Nationalarmee)

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Die jährliche Kampfsaison in Afghanistan hat mittlerweile ihren Höhepunkt erreicht. Jede Woche fallen im Durchschnitt 100 Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen Aufständische. 1.792 Polizisten wurden alleine seit März getötet.

ISAF-Truppen sind nur mehr vereinzelt in Kampfhandlungen verwickelt und betätigen sich hauptsächlich als Militärberater und Ausbildner. Bis Ende 2014 wird das Gros westlicher Truppen vom Hindukusch abgezogen sein. Zurückbleiben sollen gut ausgebildete, regierungstreue afghanische Streitkräfte, die den Kampf mit den Aufständischen selbstständig weiterführen können.

derStandard.at sprach mit Generalleutnant Mark Milley, stellvertretender Kommandant der ISAF-Streitkräfte und oberster militärischer Planer in Afghanistan, über den mittlerweile zwölf Jahre dauernden Konflikt und die Fähigkeiten der afghanischen Truppen.

derStandard.at: Die ISAF hat Mitte des Jahres die Sicherheitsverantwortung an Afghanistan übergeben. Wie würden Sie diese Kampfsaison bezeichnen?

Milley: Als sehr kritisch, denn es ist der erste Sommer, in dem die afghanischen Sicherheitskräfte komplett die Verantwortung für alle Operation im Land tragen. Und es ist die letzte Kampfsaison vor der Präsidentschaftswahl im April 2014. Jetzt werden die taktischen und strategischen Sicherheitsbedingungen bis zur Wahl festgelegt.

Im Moment sind etwas weniger als 350.000 afghanische Soldaten und Polizisten im Feld. Die Afghanen planen, koordinieren und führen alle Operationen der Aufstandsbekämpfung an. Das ist eine signifikante Veränderung im Vergleich zu den letzten zwölf Jahren. Bis zum Jahr 2008 haben amerikanische und NATO-Truppen alle Operationen geführt, meist unilateral und nur mit eigenen Soldaten.

Zwischen 2008 und 2011 konnten die Fähigkeiten der afghanischen Streitkräfte so verbessert werden, dass Partneroperationen durchgeführt werden konnten. Mit Beginn des letzten Herbstes wurde den Afghanen die Sicherheitsverantwortung für die einzelnen Provinzen schrittweise übertragen - dieser Prozess gipfelte in diesem Sommer. Die taktische Realität ist, dass die afghanischen Streitkräfte den Kampf anführen, wir unterstützen nur mehr.

derStandard.at: Wie gut schlagen sich die afghanischen Streitkräfte?

Milley: Es ist noch zu früh, um das konkret beurteilen zu können. Aber wir haben sehr gute Indikatoren. Das Ende des Ramadans markierte die Halbzeit der Kampfsaison. Bis jetzt zeigen die Streitkräfte Kompetenz im taktischen sowie im operativen Bereich der Aufstandsbekämpfung. Der Kampagnenplan (die militärischen Ziele, die am Ende der Saison erreicht werden sollen, Anm.) wurde von ihnen verfasst. Die Aufständischen kontrollieren 15 bis 20 Prozent des Territoriums, was etwa 25 Prozent der Gesamtbevölkerung Afghanistans betrifft. Die Mehrheit der Bevölkerung wird also gut von den Sicherheitskräften beschützt. Es gibt natürlich Fälle, wo Gefechte nicht gut für die afghanischen Streitkräfte ausgingen.

derStandard.at: Sind die Verluste hoch?

Milley: Die Streitkräfte sind in schwere Kämpfe verwickelt und erleiden beträchtliche Verluste. Aber sie teilen mehr aus, als sie einstecken. Die Frage ist, wie lange sie diese Verlustraten aushalten können. Bis jetzt haben sie außergewöhnliches Durchhaltevermögen bewiesen. Das ist eine harte Truppe, bestehend aus harten Leuten, die sich der Zukunft Afghanistans verpflichtet fühlen.

derStandard.at: Die Frage bleibt, ob sich die afghanischen Streitkräfte auf längere Sicht durchsetzen können.

Milley: 

Die institutionelle Entwicklung der Streitkräfte ist eine große Herausforderung. Auf der Kompanie- und auf Bataillonsebene sind die Streitkräfte sehr kompetent. Wir müssen sie jedoch weiterhin vor allem im Bereich Nachschub und Nachrichtenwesen unterstützen. Bedarf gibt es auch an Unterstützung durch taktische Luftstreitkräfte.

derStandard.at: Wie gut ist das medizinische Versorgungswesen der Streitkräfte?



Milley: Das ist ein weiteres Beispiel, wo noch einiges an institutioneller Entwicklung stattfinden muss. Im Moment ist das Verhältnis verwundeter zu gefallenen US-Soldaten 15:1. Im Zweiten Weltkrieg war es noch 3:1 - das ist auch das Verhältnis in den afghanischen Streitkräften heute. Je mehr sich die Ausbildung und Ausrüstung in den nächsten Wochen und Monaten verbessern wird, desto mehr Verwundete werden überleben.

Wir evakuieren noch immer Verwundete, aber nur in Ausnahmefällen - in der Nacht zum Beispiel (die Mehrzahl der afghanische Piloten hat noch keine Nachtflugausbildung, Anm.) oder in "heißen" Landezonen. In diesen Fällen stellen wir aber nur Kampfhubschrauber zur Verfügung, die Afghanen fliegen mit ihren eigenen Sanitätshubschraubern.

derStandard.at: Also sind die afghanischen Streitkräfte weiterhin von der ISAF abhängig?



Milley: Die afghanischen Streitkräfte sind nicht von uns abhängig. Eigentlich könnte man sagen, dass wir im Moment von ihnen abhängig sind. Wir beraten, assistieren und trainieren die Streitkräfte. Das bedeutet nicht, dass ihr Überleben von uns abhängt. Man kann aber nicht Zauberstaub über 350.000 Mann streuen und sagen: "Von nun an seid ihr eine eingespielte Einheit." Das dauert seine Zeit.

Das Ziel ist die langfristige Unabhängigkeit ohne fremde Hilfe. Die Streitkräfte stellen ihren eigenen Nachschub bereit und betreiben ihre eigene Grundausbildung. Im Durchschnitt gibt es 15 größere Operationen in der Woche auf Bataillonsebene und an die 1.500 Patrouillen pro Tag. Nur 20 Prozent davon haben westliche Militärberater. Manchmal finden wir erst am Ende einer Operation heraus, dass sie stattgefunden hat. (Franz-Stefan Gady, derStandard.at, 12.9.2013)