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Bevor die Öffentlichkeit von Angelina Jolies präventiver Brustabnahme erfuhr, war die Schauspielerin "der perfekte Werbeträger auch für das, was wir unter dem unscharfen Begriff Gesundheit" verstehen. 

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Der kranke Gesunde - Ein neuer Typus Patient, von der Genmedizin kreiert.

Foto: Murmann Verlag

Gesundheit ist zweifelsohne des Menschen höchstes Gut. Jeder will es sein, keiner weiß jedoch so genau was das wirklich ist. Die WHO definiert Gesundheit als Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens. Auf der Suche danach werden wir tagtäglich mit möglichen Krankheitsrisiken, neuen Behandlungsmethoden, Diäten und mobilen Gesundheitstools konfrontiert und zu einer gesunden Lebensführung angehalten.

"Gesundheit genießt maximale religiöse Verehrung", schreibt Manfred Lütz in dem neuen "Kursbuch 175: Gefährdete Gesundheiten" und macht offensichtlich wie utopisch das Ziel Gesundheit tatsächlich ist.

"Wer über Gesundheit redet, redet stets über ihre Gefährdungen", schreibt der Herausgeber Armin Nassehi. Die unterschiedlichen Beiträge in diesem Buch handeln genau davon. Es geht also weniger um Gesundheit, als darum, was krank macht. Dabei beschönigen die Autoren nichts, vielmehr zeigt das Buch auf ernüchternde Weise wie wir Teil dieser im Gesundheitswahn dahintreibenden Gesellschaft geworden sind.

Mut zur Emanzipation!

Bevormundet von der Politik haben wir so "den Mut zum Bösen" verloren. Robert Pfaller erinnert an die Schockbilder auf Zigarettenpackungen, mit denen uns vor Augen geführt werden soll, wie schädlich Rauchen ist. ".. ganz so, als ob eine Gruppe verantwortlicher, mündiger Menschen es mit unverantwortlichen, unmündigen zu tun hätte....", schreibt Pfaller und wünscht sich eine Politik, die signalisiert: "Du bist erwachsen. Du kannst das ertragen, Du stirbst nicht sofort, wenn du gegrilltes Lammfleisch riechst, das vom Nachbarbalkon herüberduftet".

Dabei werden wir selbst in nicht aus der Verantwortung genommen oder wie Lütz es formuliert: "Wir brauchen mehr Mut zur Emanzipation! Emanzipation von den totalitären Zumutungen der schwülstigen Gesundheitsreligion".

Leicht wird es uns dabei nicht gemacht. Im Gegenteil: Mit neuen Richtungen wie der Genmedizin werden zum Teil große Hoffnungen geschürt. Tatsächlich hat die genetische Medizin, wie Joachim Müller-Jung in seinem Essay beschreibt, einen neuen Typus Patient kreiert. Der kranke Gesunde, wie ihn der Ethikrat nennt. Ein Mensch der keinerlei Symptome zeigt und trotzdem nicht völlig gesund ist. "Nicht mehr das eigene Befinden, sondern die genetische Konstellation bestimmt den eigenen Krankheitswert", schreibt Joachim Müller-Jung über die Grenzen der genetischen Medizin und zeigt am Beispiel Angelina Jolie, wie hier ein Geschäft mit statistischen Wahrscheinlichkeiten betrieben wird.

Fett, krank oder beides

Peter Wagner versucht sich in der Beantwortung der Frage, warum wir trotz "medialen Dauerkreuzfeuers mit Gesundernährungsbotschaften nicht weniger fett, oder krank oder beides" sind. Der Autor Wilhelm Schmid versuchte sich ein Jahrzehnt als Philosoph in einem Schweizer Krankenhaus und erzählt, wie Philosophie im Gespräch zum Trostgeber und Geburtshelfer werden kann. Deborah Lupton zeigt auf, wie digitale Selbstbeobachtungstechnologien mitunter zu "Ängsten und zwanghafter Beschäftigung mit dem eigenen Körper führt".

Das Buch ist eine durchwegs kritische, zum Teil sehr ironische Mischung. Als Leser fühlt man sich bemüßigt, Stellung zu beziehen und den Mut zu finden, sich aus den Pflichten des Gesundheitswahns zu befreien. An dieser Stelle ein Danke an Manfred Lütz -  Ob daraus eine ganze Befreiungsbewegung wird, darf bezweifelt werden, aber eventuell reicht es ja schon aus, wenn jeder ganz für sich persönlich "wieder Zeit und Kraft für das eigentliche Leben erstreitet". (Regina Walter, derStandard.at, 09.2013)