Fritz Trümpi: kein Rütteln am Repertoire-Paradigma.

Foto: DER STANDARD/Juri Giannini

Bild nicht mehr verfügbar.

Gerard Mortier deutet gelegentlich ein Dirigentenstaberl an, über das andere springen sollen.

Foto: APA/J.J.GUILLEN

Die Staatsoper? Eine Katastrophe!" Der ehemalige Langzeitintendant der Salzburger Festspiele, Gerard Mortier, fährt in einem Falter-Interview Österreichs kulturellen Säulenheiligen schonungslos an den Karren. Nicht nur die Staatsoper, sondern auch die Salzburger Festspiele und die Wiener Philharmoniker bekommen ihr Fett ab. Doch warum zauberte man Mortier als Interviewpartner aus der Kiste? Und warum gerade jetzt?

Der Verdacht liegt nahe, dass Gerard Mortier, der es in Salzburg nicht immer einfach hatte, nachträglich ein paar Hendln zu rupfen trachtet. Der Zeitpunkt ist günstig. Salzburg scheint aus den Turbulenzen nicht herauszukommen, seit Alexander Pereira seinen Abgang nach Mailand beschlossen hat, nachdem er das Salzburger Budget in seiner kurzen Amtszeit arg strapaziert und das künstlerische Personal mit teilweise beschämend schlechten Verträgen ausgestattet hatte. Insofern ist es ein gefundenes Fressen, Mortier gerade jetzt auf Österreichs Kultureliten loszulassen.

Und Mortier hat in vielem nicht unrecht. Nur: Was er anprangert, ist weder neu noch unbekannt. Mortier wettert etwa, die Philharmoniker würden bei Proben und Aufführungen ständig die Instrumentalisten wechseln. Das hat ein verärgerter Nikolaus Harnoncourt schon vor Jahren öffentlich kundgetan. "Damit muss man sich beschäftigen", so Mortier. Stimmt! Die Frage ist: Wer? In erster Linie leidgeprüfte Dirigenten. Sie müssten Konsequenzen ziehen, wenn sie ein Orchester vor sich haben, mit dem sie nicht zufriedenstellend arbeiten können. Festspielleitung und Intendanz könnten Rückendeckung bieten und den Philharmonikern auch einmal die rote Karte zeigen. Das hat Mortier seinerzeit nicht, oder nicht impulsiv genug getan - und damit jene kulturpolitischen Strategien des "Musiklandes Österreich" mitgetragen, die er heute kritisiert.

Dass der ehrwürdige Kreis der Philharmoniker nicht aus selbstlosen Lämmchen besteht, ist wirklich nichts Neues. Auch nicht, was ihre Absicht betrifft, sich mitunter über Gebühr in administrative Entscheidungsabläufe einzumischen - sei es in Salzburg oder in der Wiener Staatsoper. "Die Philharmoniker sollen sich nirgends um die Direktion bemühen, denn so geht's nicht, Herrschaften", sagt Mortier. Damit wiederholt er, was er schon 1999 kundtat, als er Orchestervorstand Clemens Hellsberg nahelegte, er solle sich von der Salzburger Findungskommission um seine, Mortiers, Nachfolge fernhalten.

Doch man kann beliebig weit zurückgehen, immer fungierten die Philharmoniker als Königsmacher. Sie sägten am Ast Gustav Mahlers wie Felix Weingartners. Und auch Clemens Krauss lief ihnen ins offene Messer und musste den Hut nehmen. Krauss' unfreiwilliger Abgang erfolgte 1934, was in erster Linie den anhaltenden Spannungen zwischen ihm und Orchestervorstand Hugo Burghauser geschuldet war. Mitverantwortlich dafür dürfte aber auch Krauss' offensiv betriebene Spielplan-Öffnung in der Staatsoper und bei den Programmen der Philharmonischen Konzerte gewesen sein: hier wie dort platzierte Krauss verstärkt zeitgenössische Musik und Novitäten. Dass Krauss nach 1938 wieder mit den Philharmonikern arbeitete, war eine Konsequenz der politischen Verhältnisse: Der austrofaschistisch orientierte Burghauser wurde als Vorstand vom Nationalsozialisten Wilhelm Jerger abgelöst, was dem NS-affinen Krauss zupass kam. Avantgarde betrieb der dann kaum mehr, dafür implementierte er Walzerprogramme, aus denen das Neujahrskonzert hervorging.

Offizielle Strategien waren im Bereich der Hochkultur hierorts eben noch nie - oder sehr lange nicht mehr - der Avantgarde verpflichtet. Mortiers kritische Einwände treffen darum nicht den Punkt. Man kann sowohl in Salzburg als auch in der Staatsoper ein bisschen mehr auf Uraufführungen setzen oder aber eher auf ein selten gespieltes Repertoire, wie Mortier dies während seiner Salzburger Intendanz zu tun pflegte. Am Paradigma des Repertoires rüttelt das nicht.

Die US-Opernspezialisten Carolyn Abbate und Roger Parker sprechen in ihrem demnächst auf Deutsch erscheinenden Buch Eine Geschichte der Oper offen aus, was notwendig wäre, um den hochkulturellen Musiktheaterbetrieb grundlegend zu verändern: Es wären alte Opern "zu begrenzen, für immer zu vernichten und deren Aufführungsorte zu meiden." Gewiss eine radikale Forderung, von der freilich auch hierzulande niemand etwas wissen will.

Warum nicht? Nicht nur, weil es schade um die Werke wäre, sondern ebenso, weil Salzburg und die Staatsoper einen Österreich- Mythos bedienen, für den das "Musikland" konstitutiv ist. Dieses kommt ohne kanonisiertes Repertoire nicht aus. Konsequenterweise müsste in dieser Debatte zumindest der Hinweis auf das hoffnungslos Museale des Opernbetriebs fallen. Mortier belässt es beim Ausspielen einzelner Akteure gegeneinander - Philharmoniker gegen Festspielleitung, Dirigenten gegen Philharmoniker, Dominique Meyer gegen Ioan Holender. Dies ist in erster Linie Schattenboxen und dürfte mehr persönlichen Eitelkeiten als wirklichem Veränderungswillen geschuldet sein. (DER STANDARD, 3.9.2013)