Was im amerikanischen Alltag noch alles herumschwirrt an Stereotypen, hat Barack Obama neulich beschrieben: "Es gibt in diesem Land sehr wenige afroamerikanische Männer, die noch nicht die Erfahrung gemacht haben, dass man ihnen misstrauisch folgt, wenn sie in einem Kaufhaus einkaufen. Das schließt auch mich ein." Dasselbe, fügte der Präsident hinzu, gelte für Männer mit dunkler Haut, die an roten Ampeln allzu oft die Zentralverriegelungen der Autos klicken hörten, sobald sie die Straße überqueren - ihm selber sei das auch schon passiert.

Runde Jahrestage gehen einher mit Bestandsaufnahmen - und die Bilanz, die amerikanische Politiker und Wissenschafter 50 Jahre nach Martin Luther Kings "I Have a Dream"-Rede ziehen, ist eine gemischte. Und die Debatte darüber ist höchst kontrovers. "Wir sind heute eine bessere Nation", sagt John Lewis, der Kongressabgeordnete aus Georgia, der 1963 als blutjunger Studentensprecher zu den Initiatoren des Marschs auf Washington gehörte. "Hätte mir jemand vor 50 Jahren gesagt, dass einmal ein Afroamerikaner als Präsident im Weißen Haus sitzen würde, hätte ich wahrscheinlich erwidert: 'Du bist verrückt! Du weißt nicht, wovon du redest!'"

Der Princeton-Professor Cornel West hingegen, einer der profiliertesten linken Bürgerrechtler der Gegenwart, spricht in bitteren Worten von der "Obama-Plantage", auf der nur die Schilder ausgetauscht wurden, aber Schwarze noch immer benachteiligt seien - kaum anders als früher. Der Präsident, beklagt West, tanze nach der Melodie der Wall Street und werfe schwarzen Vätern und Teenagern persönliches Versagen vor, statt der wachsenden sozialen Ungleichheit deutliche Worte zu widmen.

Was also hat sich gebessert? 1963 riskierten es Afroamerikaner, Opfer von Lynchmorden zu werden, wenn sie in den Südstaaten mit ihren rassistisch getrennten Trinkbrunnen und Toiletten, Restaurants und Kinos von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten. Heute ist die Wahlbeteiligung unter schwarzen Amerikanern höher als unter weißen. Zumindest war sie es, als zweimal in Folge Obama das Votum gewann.

Einfluss, aber auch Armut

Großstädte wie Denver, Philadelphia und Washington werden von schwarzen Bürgermeistern verwaltet, Unternehmen wie Merck oder American Express von schwarzen Konzernchefs geleitet. Den Bundesstaat Massachusetts - Eliteuniversitäten, neuenglisches Bürgermilieu - regiert ein schwarzer Gouverneur, der Demokrat Deval Patrick. Lebten Anfang der 1960er-Jahre noch fast zwei Drittel der African Americans unterhalb der Armutsgrenze, so sind es heute noch 28 Prozent.

Und doch: Die Wohlstandsschere, die sich mit dem Entstehen einer breiten schwarzen Mittelklasse zu schließen schien, ist infolge von Finanzkrise und Rezession wieder auseinandergegangen. Mit dem Eigenheim, auf das sie zu teure Kredite aufgenommen hatten und das sie verloren, als die Spekulationsblase platzte, büßten schwarze Familien oft ihr gesamtes Vermögen ein.

Weiße Familien hatten in aller Regel Reserven, was nach der Krise den Neustart erleichterte. Sie konnten sich, so zeigen es Statistiken des Urban Institute, auf ein Sparpolster von durchschnittlich 92.000 Dollar verlassen, schwarze gerade einmal auf 4900. In einem Satz: Finanzkrise und Rezession haben die Gruppe, die sich Verluste am wenigsten leisten konnte, am meisten verlieren lassen. (fh, DER STANDARD, 28.8.2013)