Mit literarischen Talenten ausgestattet, aber auch mit einem Hang, ihren Plot zu genrehaft und vor allem sprachlich zu wenig sorgfältig zu gestalten: Helene Hegemann.

Foto: Alexandra Kinga Fekete

Nach dem Axolotl Overkill nun also zwei Tiger. Mit ihrem Romandebüt hat Helene Hegemann einiges Aufsehen erregt, wenn auch nicht allseits Zustimmung geerntet. Auf junge weibliche Stimmen und Gesichter reagieren Kritiker wie Publikum gern wohlwollend bis aufgeregt, und zu oft richtet man erst beim zweiten Werk ein genaueres Augenmerk auf literarische Qualität. Jene von Hegemann liegt vor allem darin, dass sie vorführt, wie heute Simulation von Sprachkunst und das Genre "Orientierungslose Jugend aktuell" am Jargon-Übermaß, an bemühter Lässigkeit und an mangelnder Präzision scheitern.

Der Titel Jage zwei Tiger klingt aufregender, exotischer, als es die Romanhandlung einzulösen vermag. Sie folgt dem dreizehnjährigen Kai und der siebzehnjährigen Cécile und deren Wirrungen von Berlin bis München und retour. Ein Autounfall, eine verunglückte Mutter, der im Schock umherirrende Kai, eine Zirkusfamilie am See und die faszinierende einarmige Samantha, ein Aufwachen im Krankenhaus. Dann kommt Cécile ins Spiel, mit ihr einer der Erzählerin-Hinweise, die als kurze Einschübe wohl Reflexion über Narration vorgeben sollen, jedoch in ihrer Unbedarftheit lächerlich wirken: "Neue Protagonistin", betont Hegemann für jene, die nicht aufmerksam gelesen hätten. Und später, damit man einzuordnen verstehe, wovon der Roman handelt: "Es geht um Minderjährige in Extremsituationen".

Mit Cécile erscheinen die Reichen und Verwöhnten auf der Abbildfläche, alles Party, alles Kacke, dazu natürlich Magersucht und ein Alternativmilieu mit junger Coolness und Rauschzuständen, was schon lang nicht mehr alternativ wirkt. Kai erlebt mit seinem Vater einen Ausflug in die Schweiz, Cécile reist nach Italien, alle Erwachsenen stecken in Beziehungskatastrophen, baden ihre geldspießbürgerlichen Kulturkrisen aus, alles in allem ihre Desillusionen, deren sich ihre Kinder gar nie hinzugeben meinen.

Einige Passagen dieses Hin und Her sind recht schräg und in ihrer Übertreibung toll gelungen, manche Beobachtung ist klug und interessant. Die Geschichte von Samantha und dem Zirkus sowie die Szene im Zoo zeigen die literarischen Talente von Helene Hegemann, die jedoch der Tendenz folgt, ihren Plot zu genrehaft und vor allem sprachlich zu wenig sorgfältig zu gestalten. Während der Aufbau des Romans geradezu brav funktioniert - abwechselnd vier Kapitel Kai, vier Kapitel Cécile, erste Zusammenführung am Ende des zwölften Kapitels -, bemüht der Stil das Modisch-Wilde. Es ist die Pose eines Jungjargons, der wie Werbesprache klingt, und Pose ist Oberfläche. Als deren Hauptwörter fungieren Kacke, Scheiß, mega, okay. "Die Leute waren okay zu ihm": Das wird man kaum eine ansprechende Schilderung nennen.

Als Kennzeichen ungenauen Formulierens lässt sich in solchen Texten meist die inflationäre Verwendung von "irgend-" erkennen, in diesem Roman hunderte Male. Nur in wenigen Fällen bringt dieses "irgend-" einen semantischen oder stilistischen Mehrwert. "Das Haus war halt irgendwie fünfhundert Jahre alt" ist noch eine der originelleren Stellen. Um aber als Stilmittel zu wirken, verwendet Hegemann das Wort zu beliebig. "Er guckte während der Fahrt aus dem Fenster und versuchte sich in der Landschaft zu verlieren, die er irgendwie mochte, er war noch nie irgendwo gewesen, wo es auf diese Weise anders ausgesehen hätte." Nun weiß man nicht, wie die Figur die Landschaft mag und inwiefern diese anders aussieht. Der Satz schafft kein Bild, außer das einer Beschreibungsfaulheit, die etwa den Zürichsee als "eine ruhig vor sich hinexistierende, große Fläche in Bananenform" eben nicht charakterisiert.

Häufig ersetzen Verweise auf Filme, Songs, Kunstwerke oder Modemarken eine Schilderung: ein Übermaß an Orientierung in jugendlicher Orientierungslosigkeit. Zudem verwendet Hegemann schiefe Vergleiche, einmal heißt es gar über Cécile in unverantwortlicher Zuspitzung, sie wirke "wie eine kurz vorm Genickschuss aus dem KZ ausgebrochene komplette Irre".

Nicht weniger undifferenziert klingen viele Dialoge. Da redet eine alte Obdachlose in München gleich wie ein junger Berliner, da quatschen die Figuren drauf los. "Scheiße, mir ist langweilig", sagt einer, und Kai antwortet: "Scheiße, mir auch." Die reproduzierten Phrasen - auch leicht, aber holprig variiert ("Kai biss sich ziemlich in den Arsch") - bringen keinen eigenen Duktus hervor, sondern ein vorgeblich cooles, weil von Phrasen gehaltenes Weltbild. Jage zwei Tiger hat das Problem, das der Roman einer merkwürdigen WG zuschreibt: keine eigene Jugendbewegung, sondern nur Simulation.

Nach dem endgültigen Scheitern der humanistischen Kultur in Weltkriegen, NS-Horror und Auschwitz haben Sprachkünstler wie Ernst Jandl oder Werner Schwab ihrer Literatur den Humanismus und das Schöne ausgetrieben. Und nun kommt, auf ganz anderer Ebene, die junge Wohlstandsverwahrlosung zu Wort, die alles scheiße findet und nicht viel mehr als Mimikry betreibt, ohne merken zu wollen, wie nahe sie den Phrasen der Werbung steht.  (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 24./25.8.2013)