Trumpft in "Das größere Wunder" mit überbordender Fantasie auf: Thomas Glavinic.

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Wien - Die Hauptfigur heißt Jonas, schon wieder Jonas. Im Roman Die Arbeit der Nacht, 2006 erschienen, war Jonas Einrichtungsberater; drei Jahre später, im Roman Das Leben der Wünsche, Werbetexter. Nun also hat Thomas Glavinic aus fixen Bestandteilen (die Geliebte namens Marie) eine neue Biografie für seinen Helden entworfen. Diesmal, in Das größere Wunder, ist Jonas Privatier. Aus einer Laune heraus nimmt er an einer kommerziellen Expedition zum Gipfel des Mount Everest teil.

Glavinic, 1972 in Graz geboren, hat sich jahrzehntelang, wie er in diversen Interviews erzählte, für das Höhenbergsteigen begeistert, speziell für den Bereich über 8000 Meter, den man die "Todeszone" nennt. Sein Jugendfreund Gerfried Göschl, der 2005 im Alleingang und ohne Sauerstoff den Mount Everest bezwungen hatte, hielt ihm, so Glavinic, "einige Privatvorträge", die ungeheuer aufschlussreich und spannend gewesen seien. Die Idee, gemeinsam den Kilimandscharo zu besteigen, ließ sich aber nicht realisieren: Göschl kam 2012 ums Leben.

In seinem neuen Roman konnte Glavinic das Wissen, das er sich über den Everest angeeignet hatte, zu einer atemberaubenden Geschichte verdichten. All die Begebenheiten in den diversen Lagern und während der mühsamen Etappen sind derart realistisch beschrieben, dass man meint, Glavinic müsse aus eigenem Erleben schöpfen. Man glaubt ihm jedes Wort. Und so leidet man auch mit Jonas mit: von der ersten Seite, nach der Ankunft im Basislager, bis zu letzten, die in doppelter Hinsicht eine Erlösung bedeutet.

Doch Das größere Wunder ist nicht bloß ein flüssig erzählter Abenteuerroman, sondern auch ein Entwicklungsroman. Und eine Paraphrase des Faust-Stoffes.

Beim tagelangen Akklimatisieren an die Höhe bleibt Jonas viel Zeit zum Grübeln: "Er dachte an den Weg, der ihn hierher geführt, der ihn um die Welt getrieben hatte." Dieser Weg beginnt, wie könnte es anders sein, in der Kindheit (im Salzburgischen nahe Deutschland) - beziehungsweise eigentlich mit der Geburt. Jonas hat Glück, sein Zwillingsbruder Mike hingegen nicht: Komplikationen mit der Nabelschnur führen zu schweren geistigen Behinderungen. Die beiden, untrennbar miteinander verbunden, wachsen ohne Vater bei ihrer Mutter, einer Alkoholikerin, auf - bis sie von Picco, dem Großvater ihres besten Freundes Werner, der auch am gleichen Tag geboren wurde, zu dritt in dessen Haus geholt werden. Das erinnert ein wenig an die US-Fernsehserie Lieber Onkel Bill aus den späten 1960er-Jahren.

Unermesslicher Reichtum

Oft deutet Glavinic, sehr raffiniert, nur an. Auch über Picco, von den Kindern "Boss" gerufen, erfährt man nicht viel. Er beschäftigt mehrere Mitarbeiter, darunter eine Köchin und einen Mann fürs Grobe. Woher der unermessliche Reichtum stammt, bleibt im Dunkeln. Aber man ahnt, dass miese Geschäfte die Basis gebildet haben. Einmal wird Piccos echter Name, Leopold Brunner, erwähnt. Bekanntlich war ein anderer Brunner (Alois) ein schwerer NS-Verbrecher.

In Piccos riesigem Haus ist alles Religiöse unerwünscht, auch Weihnachten wird nicht gefeiert. Denn der Boss, der den Kids jeden Streich, selbst brutale Terrorakte, durchgehen lässt, ist eine durchaus diabolische Figur, die nur an den Teufel glaubt und prätestamentlich Rache übt (nicht Aug um Aug, sondern Gebiss um Zahn). Einmal soll er, so erzählt Werner, gesagt haben: "Ich bin die Kraft, die stets das Gute will und doch das Böse schafft." Mit sehr ähnlichen Worten stellt sich ja Mephisto vor.

Jonas' Pakt mit Picco ist besiegelt, als er zustimmt, adoptiert zu werden: Nach dessen Tod (und vielen anderen Toten) verfügt der junge Mann über mehr Geld, als er jemals ausgeben könnte. Dies bewahrheitet sich, obwohl Jonas jeden noch so größenwahnsinnigen Wunsch realisieren lässt.

Der Begriff Entwicklungsroman führt allerdings ein wenig in die Irre. Denn schon als Kind behauptet Jonas: "Ich will der werden, der ich bin." Er ist geradezu altklug, eine wirklich geistige Entwicklung findet im Roman nicht statt.

Zudem verfügt Jonas über geradezu übermenschliche Kräfte. Er kann die Gedanken seines Freundes Werner lesen, er spürt Gefahren - und ist in der Lage, nahezu jede Sprache zu verstehen. Aber mit unvermittelt auftretenden Fieberschüben hat auch er eine Achillesferse. Als Getriebener und "König der Zeitkapsel" will er ergründen, was die Welt im Innersten zusammenhält: Er ist einmal da, einmal dort, natürlich auch Zeuge von 9/11. Und immer auf der Suche nach dem Wunder, dem "größeren Wunder": Er reist zu Sonnenfinsternissen, geht jedes verrückte Wagnis ein.

Andere sterben bei den Mutproben, er hingegen, dieser zumeist einsame Held, überlebt - weil ihm, wie er meint, "ein Bote Gottes gesandt" worden ist. Bald schon wird er dessen gewahr, dass er "in Hunderten Zügen, in Tausenden Flugzeugen auf der Suche nach dem einzigen" ist, "für das es wert war zu leben: der Liebe". Und er sehnt sich danach, "einmal im Leben einen Menschen zu treffen, der stärker ist als alles, was man ihm entgegenzusetzen hat".

Jede Frau verfällt ihm sofort, doch keine vermag zu genügen. Bis Jonas sein Gretchen, eine sanfte Singer-Songwriterin, trifft. Picco hätte es wohl gar nicht gern gesehen: Marie führt Jonas zum Grab seiner Familie, wo sie sich bekreuzigt und er lange nachdenken wird. Doch werden die beiden auf Dauer ein Paar? Bleibt Jonas auf ewig im Eis? Oder wird er errettet?

Was in Jonas' Leben alles passiert, lässt sich nicht nacherzählen: Glavinic trumpft mit überbordender Fantasie, mit irrwitzigen Ideen, mit einem Noch-und-nöcher auf. Zudem baut er ein paar nette Fallen und Zitate ein (etwa die Geschichte mit den drei Wünschen). Diese irrwitzige Biografie, ebenfalls linear erzählt, verzahnt Glavinic mit dem detaillierten Bericht über die Everest-Expedition. 450 Seiten lang führt er die beiden Stränge parallel, schließlich, zum Finale, fallen sie in eins. Ja, Das größere Wunder befindet sich vollkommen zu Recht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis.  (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 24./25.8.2013)