Das Tamagotchi 4.5 aus dem Jahr 2004 in seiner kunterbunten Verpackung.

Foto: derStandard.at/Pichler

Dieses grelle Plastik-Ei mit schwer veralteter Hardware beherbergt das digitale Leben.

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Gespanntes Warten auf das Schlüpfen des kleinen Rackers.

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Am Anfang sind sie alle gleich: Ein wenige Pixel großer Knödel.

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Dieser kann mit fortschreitender Zeit, abhängig von der Pflege, in verschiedene Jugend- und Erwachsenenstadion übergehen. Hier: Eine der letzten Aufnahmen von Lilly zwei.

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Lilly vier hielt sich länger und präsentierte sich am Ende ...

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... als knuffiges Küken mit Kopfbedeckung.

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Was in ein Tamagotchi reingeht, muss auch wieder raus. Tamagotchis sind nicht stubenrein.

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Stets abrufbar sind Statistiken zu aktuellen und verblichenen Ei-Bewohnern.

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Regelmäßige Pflege vorausgesetzt, lebt ein Tamagotchi ewig. Sonst ist die Existenz des Digi-Tiers aber fragiler, als man denken möchte.

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Japan ist immer wieder für interessante Trends gut. Auch in Sachen Games und Elektronik hat "Nippon" der Welt seit jeher einiges zu bieten, alleine die Hersteller Sony und Nintendo sind mit ihren Konsolen Jung und Alt ein Begriff. Andere Errungenschaften hielten sich nur kurz, prägten sich aber ins kollektive Gedächtnis ihrer Generation ein - so wie 1996 das Tamagotchi.

Namco Bandai probierte das Spiel mit der Verantwortung. Kurz erklärt war beziehungsweise ist das Tamagotchi ein digitales Wesen, das in seinem eigenen kleinen Spielgerät residiert und vom Besitzer gehegt und gepflegt werden muss. Scharen von Kindern und Jugendlichen rissen sich um diese neue Computer-Haustier, nicht wenige Pädagogen debattierten über positive und negative Lerneffekte, und Schulstunden weltweit wurden durch regelmäßiges Gepiepse untermalt.

Jugendsünden

Ich weilte damals in der gymnasialen Unterstufe. Bald nachdem die ersten Werbespots für das Tamagotchi über die Röhrenfernseher flimmerten, fanden die frisch erworbene Pfleglinge neue Frauchen und Herrchen an der Schule. Erstaunt wurde beobachtet, wie die monochromen Küken aus ihrem Ei schlüpften und sich bei entsprechender Zuwendung weiterentwickelten

Alsbald spielten sich auch die ersten Dramen ab, den unsterblich waren die Tamagotchis noch nie. So kam es schon einmal vor, dass das gerade erst erwachsen gewordene Tierchen eines Mitschülers an einem stressigen Schultag unbeachtet im Ranzen verhungerte. Der zu beklagende Tote war zwar nicht echt, die Trauer allerdings schon, vermochte das Pixelwesen bei einigen gar zu intensive Mutter- bzw. Vatergefühle auszulösen.

Reset

Auch ich habe ein Kindheitstrauma zu verarbeiten: Nach langem Quengeln wurde ich stolzer Besitzer eines Tamagotchi-Klons in einem wenig ästhetischen, dunkeltürkisen Ei, erstanden in einer der letzten Konsum-Filialen des Landes. Über eine Woche wurden die Bedürfnisse des Digi-Zwergs von mir höchst verantwortungsvoll erfüllt und so verwandelte er sich von einem kleinen Pixel-Ball langsam in einen großen. Bis gehässige Mitschüler die Reset-Taste auf der Hinterseite entdeckten und dem Leben des Zöglings in einem unbeobachteten Moment ein jähes Ende setzten.

Selbstversuch

Heute, 16 Jahre später, ist es an der Zeit, einen Selbstversuch zu wagen. Der Tamagotchi-Nachbau aus dem Konsum-Regal ist - wie die Handelskette - längst Geschichte, aber immerhin ließ sich auf Ebay problemlos ein Original erstehen. Dabei handelt es sich um ein Tamagotchi in der Version 4.5, die laut Prägung aus dem Jahre 2004 stammt. Dementsprechend ist sie etwas weiter entwickelt als ihr falscher Cousin von 1996.

Antiquiert

Vom Infrarot-Port abgesehen hält sich die technische Evolution jedoch in Grenzen. Was 1996 schon nicht mehr State of the Art war, vor neun Jahren definitiv schon als veraltet gegolten haben muss, wirkt heute wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Auch das Tamagotchi der vierten Generation steckt in einem mit bunter Kette garnierten Plastik-Ei mit pixeligem Zwei-Farben-Display und drei Gummitasten zur Bedienung.

Wo grob aufgelöste alte Videospiele durchaus charmant wirken können, will sich an dieser Stelle keine wohlige Nostalgik einstellen. In der Tat entspricht das Display in etwa jenem früher Mobiltelefone, die im Gegensatz zu diesem Produkt allerdings meist über Hintergrundbeleuchtung verfügten. Selbst bei gutem Licht ist das Geschehen bei geringer Neigung des Spielzeug-Eis nicht mehr zu erkennen.

Umstellung

Freilich ist auf einem solchen Trip in die Vergangenheit mit Hürden zu rechnen, weswegen der miese Bildschirm dem Experiment auch keinen Abbruch tut. Und so schlüpft nach dem Herstellen des Batteriekontakts schließlich Lilly Nummer eins aus ihrem Ei. Eine Nummerierung trägt die junge Digi-Kreatur deswegen, weil ihr - wie Lilly zwei und drei - kein besonders langes Leben beschieden war. Im alltäglichen Stress benötigt es tatsächlich einige Umstellung, das Tamagotchi zu berücksichtigen und nicht irgendwo zu vergessen. Ein Problem, das drei virtuelle Wesen vermutlich an Hunger sterben ließ.

Bedürfnisse

Lilly vier kam schließlich in die Obhut eines mittlerweile geübteren Herrchens. Mittlerweile beherrschte ich die umständliche Navigation, inklusive Tastenkombinationen, des Eis.

Um ein Tamagotchi am Leben zu erhalten, gilt es zwei Grundbedürfnisse zu befriedigen: Hunger und Zufriedenheit. Das Universalhilfsmittel dafür ist Essen. Normale Mahlzeiten sättigen das Digi-Tier, Snacks machen es fröhlich - führen bei inflationärer Verabreichung aber schon einmal zu Zahnschmerzen, die wie alle anderen Gesundheitsprobleme mit einer Spritze behandelt werden.

Stummer Stress

Was in den kleinen Schützling reinkommt, muss auch wieder aus. Und so landet irgendwann ein Häufchen am Bildschirm, das weggespült werden sollte, ehe das Tamagotchi krank und unglücklich wird. Passt etwas nicht, macht es aber ohnehin mit Piepsgeräuschen auf sich aufmerksam. Leider lärmt es auch gerne einfach so nervtötend vor sich in. Nach einem Tag recherchierte ich im Internet die Tastenkombination zur Abschaltung des Sounds und setzte dem Problem ein Ende.

Die Stille hat dann allerdings zur Folge, dass ich mich zwingen musste, regelmäßig nach dem Rechten zu sehen. Was in der Schule gestrenge Blicke der Lehrkraft auf sich gezogen hat, gestaltet sich für einen arbeitenden Menschen deutlich komplizierter. Erleichterung bietet nur der Abend, wenn sich das virtuelle Haustier schlafen legt. Notfalls lässt sich auch Gebrauch von der Pause-Funktion machen.

Lernen und Spielen

Tamagotchis können zwar bis zuletzt ihren eigenen Unrat nicht wegräumen, aber trotzdem Chefkoch, Stardesigner oder andere Traumberufe ergreifen. Dafür müssen sie in Kindergarten und Schule geschickt werden und können auch verschiedene Minispiele absolvieren, von welchen nach jeder Weiterentwicklung mehr zur Verfügung stehen.

Dabei handelt es sich um einfach gehaltene Reaktionstests (von Tauziehen bis zu Wolkenspringen), die teilweise sehr langwierig ausfallen. Weil exakt drei wabbelige Gummitasten zur Verfügung stehen und der Bildschirm nicht besonders viele Pixel beherbergt, fällt die Variation überschaubar aus und die Angelegenheit wird schnell repetitiv.

Geld für den König

Ist man erfolgreich, erhält man virtuelles Geld, das man in einem Shop in Essen und Spielzeug für das Tamagotchi investieren kann. Alternativ steht auch die Option offen, dem König des Tamagotchi-Landes Geld zu spenden.

Dieser bedankt sich summenabhängig und unregelmäßig entweder mit Geld- oder Sachgeschenken, womit dieser Funktion ein wenig das Flair eines "Einmaleins der Korruption" anhaftet. Weil besagter Monarch in der ersten Version dieses Spielzeugs noch nicht existierte, fehlen hierzu jedoch abschließende Urteile anerkannter Experten für Kinderpädagogik.

Fortschritte in den verschiedenen Skills werden per virtueller Postwurfsendung dokumentiert. Ab und zu schicken Unbekannte aber auch nette Geschenke oder Bösartigkeiten wie Kothaufen, Schlangen und Einbrecher vorbei. Letztere schlagen sich auf das Gemüt des Tamagotchis beziehungsweise den Geldbeutel nieder.

Spielen zu zweit

Über bereits erwähnte Infrarotschnittstelle können sich Besitzer des Digi-Wesens gegenseitig Geschenke schicken und ihre Tamagotchis miteinander spielen lassen. Im besten Falle funkt es zwischen den beiden - sofern geschlechtliche Kompatibilität vorhanden -, und eine neue Generation kann gestartet werden.

In Ermangelung anderer Besitzer blieb dieses Feature ungetestet. Bisherige Eibewohner werden vom Spiel übrigens dokumentiert, damit man sich auch später noch an die eigene mieserable Performance als Tamagotchi-Pfleger erinnern kann.

Jähes Ende

Nach zwei Wochen wird ein Tamagotchi alt und runzlig, bleibt aber am Leben, solange es ausreichend versorgt wird. So lässt es sich zumindest nachgoogeln, denn dieses biblische Alter war Lilly Nummer vier nicht vergönnt. Eine spontane Erkrankung raffte sie am elften Tag binnen zweier unbeobachteter Stunden unerwartet dahin. Das Ende des peinvollen Experiments.

Mag für einen Schüler ein Tamagotchi 1996 noch ein faszinierendes Ding gewesen sein, empfiehlt sich das Spielzeug ob des technischen Fortschritts und vorhandener Alternativen heute nur noch für gestandene Hardcore-Nostalgiker mit leicht masochistischem Antrieb. Technik, Bedienkonzept und Spielprinzip - wer sich um ein digitales Haustier kümmern möchte, wird alleine unter Smartphone-Apps wesentlich fortgeschrittenere und unterhaltsamere Umsetzungen finden.

Die Zeichen der Zeit hat auch Namco Bandai erkannt. Die letzte Tamagotchi-Generation wurde 2009 hergestellt. 2013 legte man das Konzept für iOS- und Android-Smartphones auf.

Nachahmer

Freilich inspirierte der Erfolg anno dazumal auch andere Unternehmen, ihre eigenen Interpretationen von Spielzeug-Haustieren auf die Kinder dieser Welt loszulassen. So warf Tiger Electronics (heute im Besitz von Hasbro) 1998 den Furby auf den Markt. Dabei handelt es sich um eine Art elektronischen Gremlin, dem angeblich Dinge beigebracht werden konnten. Die Reihe erhielt zuletzt 2012 eine Auffrischung.

Kurzer Hype

Doch nicht nur in der Industrie, auch in der Popkultur schlug sich das Tamagotchi nieder. In Japan wurden mehrere Animes veröffentlicht, die sich des Digi-Kükens als Hauptfigur annahmen. Dazu gesellte sich natürlich Unmengen an Merchandise nebst allerlei Nachahmerprodukten.

Nicht viel geringer war am Anfang der Einfluss im deutschsprachigen Raum, wo der Hype aber schon zur Jahrtausendwende wieder abgeflaut war. Einen Einblick in den musikalischen Mainstream der späten 1990er verschafft die Band Squeezer, deren Single "Tamagotchi" (1998) gar zur offiziellen Werbehymne für den pixeligen Gefährten avancierte. (Georg Pichler, derStandard.at, 29.8.2013)

Video: Squeezer - Tamagotchi