Jazztrompeter, Komponist und Zeitzeuge: Wadada Leo Smith, Jahrgang 1941, übersetzt die Geschichte der US-Bürgerrechtsbewegung in die Sprache der Musik.

Foto: Scott Groller

Saalfelden - Am Anfang stand Duke Ellington. 1943 wurde in der New Yorker Carnegie Hall seine Suite Black, Brown And Beige uraufgeführt. In Klängen erzählt sie die Geschichte der Afroamerikaner von rechtlosen Sklaven hin zu emanzipierten Bürgern Amerikas. Seither ist die afroamerikanische Geschichte immer wieder Inspirationsquelle für Jazzkomponisten gewesen, in unterschiedlichen Wellenbewegungen.

In den letzten Jahren sind, so scheint es, jene Themen wieder vermehrt in den Fokus insbesondere jüngerer US-Musiker gerückt: Da ist das nach der berühmten "Underground Railroad"-Aktivistin benannte Trio Harriet Tubman um Gitarrist Brandon Ross. Das Coin Coin-Projekt der Chicagoer Saxofonistin Matana Roberts. Sie verschränkt darin Familiengeschichte mit der Biografie von Marie Thérèse Metoyer alias Coincoin, die einst als befreite Sklavin zur Gutsbesitzerin aufstieg. Oder die soulgetränkten Songs Gregory Porters, die etwa die Harlem Renaissance thematisieren.

Aktuell gipfelt die Reihe dieser Arbeiten und Bezugnahmen im Opus magnum eines Altvorderen des Avantgarde-Jazz der 1960er-Jahre: Im Oktober 2011 erlebte Ten Freedom Summers von Wadada Leo Smith in Los Angeles seine Uraufführung. Mittlerweile liegt das 21-teilige Mammutwerk, das sich mit Ereignissen und Persönlichkeiten der Bürgerrechtsbewegung vor allem in den Jahren von 1954 bis 1964 auseinandersetzt, bei Cuneiform als Vier-CD-Box vor.

Gemeinsame Geschichten

"Es ist Zeit, dass diese Menschen zu Helden der amerikanischen Geschichte werden - nicht nur der afroamerikanischen", so der 71-jährige Smith über eines der Grundanliegen der ab 1977 entstandenen Kompositionen. "Als ich damit begann, wurde mir klar, wie tief ich persönlich von diesen Menschen und Geschehnissen beeinflusst bin. Im Wissen, dass ihre Geschichten auch meine Geschichten sind, war es für mich leichter, Bezüge zur kompositorischen Arbeit herzustellen."

Smith weiß, wovon er spricht. Der Musiker, der neben dem verstorbenen Lester Bowie als wichtigste Trompetenstimme der Chicagoer Avantgarde-Jazz-Kooperative AACM gilt, hat die Zeit der großen Umbrüche selbst miterlebt. Als der 14-jährige Emmett Till 1955 in Mississippi von weißen Rassisten ermordet wurde, da veränderte sich für den gleichaltrigen, im selben Bundesstaat aufwachsenden Leo Smith viel: "Die Angst, die dieser brutale Mord wie auch jene an vielen Aktivisten bei uns Afroamerikanern auslöste, änderte die Art, wie wir uns durch die Straßen bewegten. Jeder versuchte, stets ein achtsames Auge auf seine Kinder zu haben. Ich erinnere mich an die besorgten Blicke der Menschen, wie sie aus den Fenstern sahen, um sicherzugehen, dass dir nichts passierte."

Auch an ein anderes traumatisches Ereignis der US-Geschichte erinnert sich Smith gut: Als 1963 John F. Kennedy dem Attentat in Dallas zum Opfer fiel, war Smith Teil einer in Louisiana stationierten Army-Band. "Als ich in den Aufenthaltsraum ging, in dem die TV-Nachrichten liefen, sah ich meinen Bandleader und seinen ersten Offizier einen Freudentanz aufführen. Mein Herz sank ins Bodenlose. Ich konnte diesen Männern - Weiße, die nicht erfreut darüber waren, welche Änderungen die Politik Kennedys für sie bedeutet hatte - nie wieder mit Respekt begegnen und bat wenig später um Versetzung nach Italien."

Der Busboykott in Montgomery, Lyndon B. Johnsons Unterzeichnung des wegweisenden Civil Rights Act 1964 und Martin Luther Kings letzte öffentliche Rede in Memphis 1968 sind weitere Themen, die Smith im Rahmen von Ten Freedom Summers in Klänge gesetzt hat. Interpretiert wird die Musik in freier Abfolge von Solo-, Ensemble- und Orchesterpassagen, von ausnotierten und improvisierten Parts von Smiths zuweilen zum Quintett erweitertem Golden Quartet sowie der von Jeff von der Schmidt dirigierten Southwest Chamber Music.

Musik als Übersetzung

"Meine Musik ist nicht programmatisch, eher philologisch. Ich sehe Musik als Sprache, als psychologisierende Übersetzung der Ereignisse entsprechend dem Kampf für Bürger- und Menschenrechte und nicht als bildhafte Beschreibung konkreter Situationen", so Smith über seine Herangehensweise. Und er betont - wohl auch pragmatisch -, dass Ten Freedom Summers, das kommenden Samstag (24. 8.) beim Jazzfestival Saalfelden in Ausschnitten und verkleinerter Besetzung zu erleben sein wird, sich nicht als zyklisches Werk versteht: "Das hieße, dass zwischen den Kompositionen motivische oder thematische Verbindungen bestünden. Das ist nicht der Fall. Jeder Teil ist in sich abgeschlossen." (Andreas Felber, DER STANDARD, 21.8.2013)