Libor Rouček

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Prag, 21. August 1968: Junge Tschechen werfen brennende Fackeln auf Panzer der Invasionstruppen des Warschauer Pakts, andere versuchen es mit gewaltlosem Widerstand.

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Gerald Schubert sprach mit dem heutigen EU-Abgeordneten in Prag.

STANDARD: Als die Truppen des Warschauer Pakts am 21. August 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten, waren Sie knapp 14 Jahre alt. Wie haben Sie diesen Tag erlebt?

Rouček: Ich war mit meinen Eltern auf Urlaub in Österreich und Jugoslawien. Zur Zeit des Prager Frühlings konnte man ja frei reisen. In der Nacht vom 20. auf den 21. August waren wir bereits auf dem Heimweg und haben auf einem Campingplatz bei Zagreb übernachtet. Um fünf Uhr früh haben uns unsere österreichischen Zeltnachbarn geweckt und gesagt: Euer Land ist besetzt!

STANDARD: Trotzdem sind Sie nach Prag weitergefahren?

Rouček: Nicht sofort. Wir sind zuerst nach Wien gefahren und haben dort einige Tage in einer Turnhalle übernachtet. Aber dann haben sich meine Eltern doch zur Heimreise entschlossen.

STANDARD: Hatten Sie Angst?

Rouček: Angst hatte ich keine. Aber ich habe mir die Frage gestellt, warum in Österreich die Menschen in Freiheit leben können und in der Tschechoslowakei nicht. Als dort die Menschen ebenfalls nach Freiheit riefen, kamen die Panzer. Mehr Panzer als 1941 beim Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion. Der 21. August 1968 war für mich also ein Schlüsselerlebnis. Außerdem begann bald danach die sogenannte Normalisierung. Viele Dinge, an die ich als kleiner Bub gewöhnt war, verschwanden plötzlich wieder. Beatmusik zum Beispiel oder viele ausländische Filme. Als Teenager habe ich mich da überhaupt nicht mehr wohlgefühlt. Ich wollte etwas aus mir machen, damit ich die Situation eines Tages vielleicht ändern kann.

STANDARD: 1977 sind Sie nach Österreich emigriert. Wie sind Sie über die Grenze gekommen?

Rouček: Ich hatte eine Ausreiseerlaubnis nach Jugoslawien. Von dort habe ich es per Autostopp und über die Berge nach Österreich geschafft. Österreich war das einzige westliche Land, das ich von meinem Aufenthalt im Jahr 1968 wenigstens ein bisschen kannte. Und es war das einzige Land, das die tschechische Matura anerkannte. Ich musste nur eine Deutschprüfung ablegen, und ein Jahr später konnte ich mit dem Studium beginnen.

STANDARD: Zunächst waren Sie im Flüchtlingslager Traiskirchen untergebracht. Wie war das Leben dort?

Rouček: In der ersten Woche mussten alle Neuankömmlinge in die sogenannte Quarantäne. Man war im dritten Stock eingeschlossen, während die Behörden feststellten, ob es sich bei dem Asylwerber nicht um einen Verbrecher oder einen Spion handelt. Danach bekam man einen Passierschein. Das Lager war eine große Schule für mich. Es waren dort nicht nur Tschechen, Slowaken oder Polen, sondern auch viele Serben und Albaner. Bereits damals habe ich etwas über die ethnischen Konflikte auf dem Balkan gelernt. Zum Beispiel kam es zwischen Serben und Albanern fast regelmäßig zu Prügeleien.

STANDARD: Durften Sie arbeiten?

Rouček: Ja, es gab kaum Arbeitslosigkeit. Als ich vom dritten Stock in den ersten kam, konnte ich sofort beginnen. In der Gegend rund um Traiskirchen gab es viele Weinberge. Es war Sommer, also habe ich in den Weingärten mitgeholfen. Danach habe ich als Fliesenleger gejobbt und bei Coca-Cola Flaschen sortiert. Im Winter habe ich Arbeit in der Nähe von Innsbruck gefunden, in einer Fabrik, die Ski und Tennisschläger herstellte. Damals hat sich auch mein Traum von den Bergen erfüllt. Jedes Wochenende konnte ich in die Berge, zum Skifahren oder Langlaufen. Im März 1978 zog ich nach Wien und begann, Politikwissenschaft zu studieren. Da hatte ich bereits Asyl.

STANDARD: Im August 1978 haben Sie dann an der Wiener Ringstraße gegen die politische Situation in Ihrer Heimat protestiert.

Rouček: Das war am zehnten Jahrestag der sowjetischen Okkupation. Ich wollte zum Ausdruck bringen, was viele meiner Altersgenossen in der Tschechoslowakei fühlten, die sich mit der Okkupation nicht abfinden konnten. Also beschloss ich, mit einem zehntägigen Hungerstreik auf diesen zehnten Jahrestag und die Lage in der Tschechoslowakei aufmerksam zu machen. An der Ringstraße habe ich dafür die passende Stelle gefunden: An der einen Ecke war das Büro der tschechoslowakischen Fluglinie ČSA, an der anderen das Büro der sowjetischen Aeroflot. Gleich gegenüber ist ein Park. Dort habe ich am 21. August 1978 ein Zelt aufgestellt und bin in den Hungerstreik getreten.

STANDARD: Wie waren die Reaktionen?

Rouček: Die Wiener haben sehr positiv reagiert. In den Medien wurde viel darüber berichtet. Viele Menschen brachten mir Wasser oder Tee. Einige brachten sogar Essen, aber das habe ich natürlich abgelehnt. Auch in der Tschechoslowakei erfuhren die Menschen von meiner Aktion, über Sender wie Radio Freies Europa oder Voice of America. Die Reaktionen des Regimes waren natürlich weniger freundlich. Zu meiner Mutter haben sie gesagt: Frau Roučková, Ihren Sohn werden Sie nie wiedersehen.

STANDARD: Und hat sie Sie wiedergesehen?

Rouček: Ja, einige Jahre später konnte sie ausreisen und mich besuchen. Der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky hat dabei sehr geholfen.

STANDARD: Heute ist die Tschechische Republik Mitglied der EU, Sie sind Mitglied des Europäischen Parlaments. Wie beurteilen Sie die politische Entwicklung des Landes seit 1989?

Rouček: Wirtschaftlich und durch ihre demokratischen Traditionen hatten die Tschechen ein enormes Potenzial. Doch die Privatisierungen Anfang der 1990er-Jahre ohne geeigneten Rechtsrahmen haben dazu geführt, dass riesige Vermögen in privaten Taschen verschwunden sind. Bis heute haben viele Tschechen das Gefühl, dass es keine Chancengleichheit gibt. Dennoch: Der Beitritt zur EU im Jahr 2004 brachte Stabilität und wirtschaftlichen Fortschritt. Es gibt Frieden und Demokratie in Europa, trotz aller Probleme. In Mitteleuropa hatten wir im
20. Jahrhundert zwei Diktaturen. Die EU ist für mich ein Garant dafür, dass sich so etwas nicht wiederholt.

STANDARD: Sie waren einst Sprecher der Regierung von Miloš
Zeman. Wie macht sich Zeman heute als Präsident?

Rouček: Wenn die politische Situation in einem Land instabil wird und die großen Parteien unfähig sind, Kompromisse zu schließen, dann ist es Aufgabe des Präsidenten, überparteilich und staatsmännisch für Stabilität zu sorgen. Zu meiner Enttäuschung spielt Miloš Zeman diese Rolle derzeit nicht.