Salzburg - Schneewittchen wird von ihrer Stiefmutter übel mitgespielt. Als schöne Halbwaise entrinnt sie den Nachstellungen durch die böse Königin nur knapp. In der Bändigung des Grimmschen Märchens liegt Regisseur Nicolas Liautards unschätzbares Verdienst: Seine französische, wortlose, nicht ganz neue Schneewittchen-Inszenierung, auf Einladung der Festspiele im Salzburger Landestheater zu Gast, beruhigt die Konfliktherde. Kinder (ab sieben Jahren) dürfen gelöst aufatmen. Falls sie vorher nicht in traumlosen Schlaf gesunken sind.

Liautard lässt der Frau Königin, die unentwegt ihr Spiegelbild betrachtet, Gerechtigkeit widerfahren. Das Märchen selbst wird von der Nouvelle Compagnie in Aspik gegossen. Ein doppelter Schleier dämpft des Betrachters Augenlicht. Eine Gazetuchbahn schirmt das Portal. Ein paar Vorhänge hat Liautard im Verein mit Bühnenbildner Damien Caille-Perret zur Sicherheit noch vor die Rückwand gehängt. Die Landschaft der Brüder Grimm ist ein Seelenbezirk. In ihm herrschen die Gesetze der Vorsicht. Ereignisse werden unendlich behutsam angebahnt. Allein bis der Säugling Schneewittchen aus dem Becken der leiblichen Mutter herausgerutscht ist, vergeht eine gefühlte halbe Ewigkeit. Gut Märchen braucht Weile.

Wie in Bleischuhen bewegt sich das Personal über die Bühne. Dabei erzählt Liautard eigentlich eine Coming-of-Age-Geschichte. Das liebliche Gör (Pauline Acquart) okkupiert Stiefmutters (Marion Suzanne) Spiegel, der wie eine Mondscheibe von oben herabsinkt. Sie entsteigt dem weißen Kleid der Unschuld und schlüpft in T-Shirt und Röckchen. Fertig ist der Teenager. Die stiefmütterlichen Gefühle kochen über.

Auf der Habenseite der Produktion stehen: ein Schimmel; drei weiße Tauben, von denen mindestens eine echt ist. Eine Enttäuschung bilden die Zwerge: amorphe Puppen, die hässlich quieken. Von Liautards Bildpoesie kann man sich einlullen lassen. Das Märchen bleibt Nebensache, so wie diese Produktion. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 17./18.8.2013)