In China isst man meist deutlich besser als in Österreich. Nicht im Spitzenfeld, aber im Durchschnitt. Sicher, das Land hat kulinarische Probleme: Regelmäßig wird vergiftete Babynahrung aus dem Verkehr gezogen oder ein Straßenkoch überführt, zum Frittieren recyceltes Öl aus der Kanalisation verwendet zu haben. Es gibt hier keine Wertschätzung für gute Produkte, regional und saisonal sind eher Schimpfwörter und was für arme Bauern.

Teure Restaurants oder wohlhabendere Chinesen kaufen nur Zutaten aus dem Ausland, und unter sehr reichen Chinesen gibt es derzeit den Trend, sich eine eigene Farm zu kaufen, auf der Biogemüse und Fleisch für die eigene Familie gezogen und gezüchtet wird. Die weniger Reichen gehen vermehrt zu westlichen Fastfood-Ketten, die hier chinesisches Essen anbieten, das im Gegensatz zum Straßenessen als vertrauenswürdig gilt.

Trotz all dieser Missstände: das alltägliche Essen ist in China erstaunlich gut. Fermentierte, kleine Flussfische und gegrillte Zikaden in Wenzhou, Schweinefüße in Seegras-Suppe in Kangding, Gegrillte Gänse- und Hasenköpfe in Cheng Du, Smelly Tofu in Shanghai oder Fischkopf mit fermentierten Sojabohnen in Hong Kong – alles ein Genuss. Dass die chinesische Esskultur eine große, tolle ist, hat sicher viele Gründe, hier vier, die ich für wesentlich halte. Vieles davon trifft auch auf andere Länder und Esskulturen zu. Auf unsere leider eher nicht.

Entenköpfe: Arbeitsintensiv, auch für den Esser – dann aber ein Genuss.
Foto: Tobias Müller

Vorher noch ein Dank: An den wunderbaren Simon Xie Hong und seine Freunde, allen voran Herrn Li und seinen Kollegen, dessen Namen ich mir nicht notiert und daher, Schande über mich, vergessen habe.

Foto: Tobias Müller

Sie haben mich in Simons Heimatstadt Wenzhou vier Tage lang durchgefüttert, ja mehrmals täglich mit dem tollsten Essen verwöhnt – eine solche Gastfreundschaft habe ich bisher nicht erlebt. Viele der Bilder hier stammen aus der Zeit mit ihnen.

1) Chinesen sind gewillt, sich beim Essen zu plagen

Und nicht nur das, die Essarbeit bereitet ihnen großen Genuss. Westlern mag das Zuzeln, Saugen und Nagen als Zeichen mangelnder Tischmanieren erscheinen – viel eher aber ist es eine Hingabe an den Genuss, eine freudige Bereitschaft, sich für manche Köstlichkeit etwas anzutun. Und diese Bereitschaft öffnet Türen in vielen Europäern verschlossene kulinarische Welten.

Klein- und Kleinstfische mit herrlich zartem, schmackhaftem Fleisch, die aber einige Gräten mehr als andere haben; Krebse, die zu wenig Fleisch hätten, als dass sich die Mühe des Krebsknackers lohnt, die aber köstlich sind, wenn man einfach auf ihnen herum kaut und die Schalen ausspuckt (ganz zu schweigen von der niedrigeren Hemmschwelle, überhaupt einen Krebs zu essen, wenn man dafür nicht mehrere seltsame Instrumente benutzen muss); Meeres- und Flussschnecken, die zwar klein, dafür aber umso schmackhafter und vielseitig sind; Und Hühnerfüße oder Entengaumenfleisch, die nur dann Freude bereiten, wenn man bereit ist, an kleinen Knochen zu kauen – all das entgeht dem faulen Esser.

Einer von sehr vielen in China verspeisten Kleinstfischen. Schade, nur wegen der Gräten darauf zu verzichten.
Foto: Tobias Müller

Dabei machen diese Dinge den Speiseplan nicht nur vielseitiger, er wird auch umweltschonender: Die westliche Fixierung auf große Raubfische, die hoch oben in der Nahrungskette stehen, ist einer der wesentlichsten Gründe für Überfischung. Das soll nicht heißen, dass nicht auch die Chinesen mit ihrem maßlosen Wassertier-Konsum dazu massiv beitragen. Aber der Ansatz, kleinen Fischen den gleichen, wenn nicht sogar höheren kulinarischen Wert beizumessen als den großen, weil man sich eben nicht um Gräten schert, ist nachahmenswert – genauso wie die Freude über Schnecken, Muscheln und anderes kleines, leicht zu züchtendes Getier, das so manches Industrieschwein spart.

2) Chinesen essen (fast) alles

Damit meine ich nicht die berüchtigte Vorliebe reicher Chinesen für seltene Wildtiere, den Appetit auf Haifischflosse oder die (eher begrenzte) Lust an Hund und Katze . Ich meine einerseits die Bereitschaft, alles als potentiell essbar und köstlich zu betrachten, und andererseits ein beeindruckend konsequentes Nose to Tail essen zu betreiben.

Bei uns vergessen, in China ein Gemeinplatz: Das Huhn hat mehr zu bieten als nur Brust und Keule.
Foto: Tobias Müller

Vom Tier wird ausnahmslos alles verspeist: Gebratene, scharf gewürzte Entenköpfe – köstlich, wenn man, siehe oben, gewillt ist, sich ein wenig zu plagen – oder saurer Fischhaut- und Schwimmblasensalat geben davon Zeugnis.

Saurer Fischhautsalat mti Ernüssen, Chili, Sesam und Koriander, in Canton ein beliebter Snack am Vormittag.
Foto: Tobias Müller

Aber Tiere sind nicht das Einzige, das komplett verwertet wird. In der Nähe von Wenzhou gehört Kürbisblättergemüse zum Repertoire, samtig, leicht pelzig, mit zartem Kürbisgeschmack, in Canton werden gern die Blätter der Süßkartoffel aufgetischt, und in Shanghai wird Tofuhaut gekocht, süß gewürzt und zu schmackhaften Zöpfen geflochten. Was hingegen in Österreich meist von roten Rüben, Mangold, Brokkoli oder Mais serviert wird, ist ein Bruchteil dessen, was gegessen (oder damit gemacht) werden könnte.

Pelzig-zarte Kürbisblätter: Nicht nur der Fruchtkörper des Gewächses ist verwertbar.
Foto: Tobias Müller

Dazu wird hier überall gesammelt und gesucht, dass es eine Freude ist: Gegrillte Zikadenspieße, Quallen-Salat, Baumharz-Sauce – das sorgt, genauso wie Punkt eins, für eine Abwechslung, die fast näher an der vielfältigen Kost des Jägers und Sammlers ist als am vergleichsweise einseitigen, faden Fraß des Ackerbauern (sicher, nur, wenn man es sich leisten kann, der chinesische Reisbauer isst weniger spannend).

Quallenfachgeschäft: Die Wesen werden gewaschen, in Streifen geschnitten und als knackiger Salat kredenzt.
Foto: Tobias Müller

Zudem schont es ebenfalls Ressourcen: Wer Zikaden genießt, der braucht weniger Schweinefleischfabriken. Aus einem Fisch werden deutlich mehr Mahlzeiten, wenn man weder Kopf, noch Haut noch Schwimmblase einfach entsorgt oder bloß in die Suppe schmeißt (für die bleibt immer noch genug übrig).

Zikadenspieße: Fleischig, knusprig, würzig, gut. Und Fleischfabriken spart es zudem auch.
Foto: Tobias Müller

Wieder gilt: der Ansatz ist gut, die Praxis nicht unbedingt. In dieser essen die Chinesen etwa deutlich mehr Schweinsohren, als ihre Schweine hergeben, weswegen die Ohren um die halbe Welt eingeflogen werden. Dank ihrer unbändigen Lust an Schildkröte und Frosch sind diese in freier Wildbahn kaum mehr vorhanden; Und dem Nose to Tail steht eine kulinarische Verschwendungssucht der neuen Mittelschicht gegenüber, deren Angehörige oft glauben, das Gesicht zu verlieren, wenn sie im Restaurant nicht so viel bestellen, als dass ganz sicher die Hälfte übrigbleibt.

3) Chinesen lieben Verrottetes

Relativ egal, was Sie in Yunnan und Sichuan bestellen, Sie werden fermentiertes Gemüse dazu bekommen. Nudelsuppe? Voll mit saurem Chinakohl. Fischkopf? Überhäuft mit vergorenen Chilis. Tofu? In sehr gut gereiftem Sojabrei gebraten. Und auch der Yunnaner Tee, der Pu'er, wird erst fermentiert, bevor er gepresst und anschließend mitunter viele Jahre zum Reifen gelegt wird. In anderen Provinzen ist Verrottetes nicht ganz so allgegenwärtig, aber auch der Hong Konger schaufelt Tausendjährige Eier in seinen morgendlichen Reisbrei, der Taiwanese (ok, keine Provinz) mag den Tofu erst so richtig, wenn er zum Himmel stinkt, und fast jedes feine Shanghaier Restaurant bietet als Amuse Bouche eine Pickle-Auswahl, etwa herrliche getrocknete und fermentierte Karotten.

Zweimal Verrottetes: Sojasauce und Nudelsuppe voll saurem Gemüse – ein Genuss. Die Knödel waren auch nicht schlecht.
Foto: Tobias Müller

Die Japaner mit ihrem Miso, Kasu und Nuka mögen die Großmeister des Verrottens sein, die Chinesen betreiben es, wenn vielleicht weniger gefinkelt, zumindest in ebenso großem Maßstab: kaum ein Restaurant oder eine Küche in denen nicht ein paar Gärtöpfe herumstehen – mit dem Ergebnis, dass das Essen einfach besser schmeckt.

Was roh gut schmeckt, das kann auch vergoren werden. Fast jedes chinesische Gasthaus hat seine eigenen Gärtöpfe. Hier unidentifiziertes, verrottetes Gemüse auf einem Markt in Cheng Du.
Foto: Tobias Müller

Fermentieren bringt unglaubliche, vielseitige, nicht anders zu bekommende Geschmäcker hervor und verwandelt banale, fade Zutaten in Delikatessen. Das geht nicht nur mit Gemüse, alles, was roh gut schmeckt kann auch vergoren werden, vom Ei bis hin zum Seeigel. Zudem deutet sehr viel darauf hin, dass dies äußerst gesund ist. Die Idee, dass eine gestörte Darmflora (mit)schuld ist an fast allen Zivilisationskrankheiten wird seit einigen Jahren eifrig diskutiert. Und es sieht ganz danach aus, dass jene Bakterien, die Essen fermentieren, ziemlich geeignet sind, genau diese Flora wieder herzustellen. Und ihr Verschwinden aus unserer Nahrung ein Grund sein könnte für viel mehr Übergewicht und Herzinfarkte. (Wer mehr wissen mag: Michael Pollans neuestes Buch hat da recht viel zu bieten).

In den USA wird das Fermentieren gerade wiederentdeckt, bei uns gibt es bisher wenige Anzeichen. Hier wird fast ausschließlich für Joghurt, Käse, Brot, Alkohol und das gelegentliche Sauerkraut fermentiert – und das meist in industriellen Maßstäben, die dem Ergebnis den Geschmack rauben. ("Wer für den Massenmarkt produziert, der will Fadesse – nach je weniger etwas schmeckt, desto mehr Menschen werden es zumindest nicht grauslich finden", hat mir der Bierpapst dazu einmal über, was sonst, Bier erklärt).

4) Chinesen teilen ihr Essen

Einfache Methode, großer Effekt. Sicher, die morgendliche Nudelsuppe schlürft jeder Chinese für sich allein. Wird Essen aber als soziales Ereignis zelebriert – und das wird es hier fast immer – wird für den ganzen Tisch bestellt. Was den großen Vorteil hat, dass man viel mehr kosten kann, ohne sich heillos zu überfressen.

Der Anfang eines chinesischen Festessens. Was auch immer serviert wird, es wird geteilt.
Foto: Tobias Müller

In westlichen Ländern ist das ganz an der Spitze der Esskultur genauso: Beim Tasting Menü bekommt zwar jeder seinen eigenen Teiler, sehr oft kann es aber nur vom ganzen Tisch bestellt werden und die Portionen sind so klein, dass zehn, zwölf, zwanzig Gänge möglich sind. In Kalifornien zum Beispiel gibt es derzeit auch in der kulinarischen Mittelschicht einen Trend zur geteilten Portion, bei uns ist das nur in Ansätzen vorhanden. Wie schön wäre es, wenn sich da mehr tun würde. (Tobias Müller, derStandard.at, 18.08.2013)