Je größer die Schmerzen, umso direkter sollen Medikamente in den Körper gelangen. Der Zugang zu Blutgefäßen ist über periphere Venenkatheter (Kanülen, Venflons, Anm.Red.) möglich. Alles weitere ist eine Frage der Dosis.

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Das Problem ist viel weiter verbreitet, als mancher glauben mag. Allein in Österreich leiden schätzungsweise anderthalb Millionen Menschen unter chronischen Schmerzen. Deren Ursachen und Ausprägungen sind schon fast so individuell wie die Patienten selbst. In vielen Fällen jedoch lassen sich die Auslöser von Schmerzbeschwerden nicht eindeutig identifizieren. Der behandelnde Arzt kämpft mitunter gegen eine Art Phantom - mysteriös, quälend und stets präsent.

Chronische Schmerzen sind indes auch eine sozioökonomische Größe. Laut einer von der Dachorganisation der europäischen Schmerzgesellschaften EFIC in Auftrag gegebenen Erhebung verursachen in Großbritannien Rückenschmerzen jährlich wirtschaftliche Schäden in Höhe von zehn Milliarden Euro. Eine gewaltige Summe. In anderen EU-Staaten dürfte die Lage ähnlich besorgniserregend sein. Schwer zu beziffern sind allerdings die Kosten durch Produktivitätsverlust. Schmerzpatienten lassen sich nicht unbedingt krankschreiben. Oft sind sie am Arbeitsplatz, leiden aber so stark, dass ihre Leistung erheblich eingeschränkt ist. Fachleute bezeichnen dies als Präsentismus.

Voneinander lernen

Um die Bedeutung chronischer Schmerzen stärker in das Bewusstsein von Öffentlichkeit und Politik zu rücken, hat die EFIC 2010 die EU-weite Plattform "Social Impact of Pain" (SIP) gegründet. In ihrem Rahmen sollen auch unterschiedliche Strategien zur Behandlung von Schmerzen verglichen und die erfolgreichsten geteilt werden. Voneinander lernen und gemeinsam Fortschritte machen. Und dabei geht es nicht nur darum, Kosten zu senken.

"Wenn man das Schmerzmanagement verbessert, ist dies auch ein Qualitätsparameter für das gesamte Gesundheitssystem", betonte diesbezüglich Rolf-Detlef Treede, Facharzt am Universitätsklinikum Heidelberg/Mannheim, während der SIP-Jahresversammlung im vergangenen Mai in Brüssel. Treedes Kollege Giustino Varrassi von der Universität L' Aquila wies auch explizit auf die Rolle der Eigenverantwortung hin. "Eine gute Aufklärung von Schmerzpatienten ist sehr wichtig." Man müsse sie dazu bringen, die Chronifizierung ihres Leidens zu vermeiden. Fehlverhalten, vor allem am Arbeitsplatz, führt oft zu einer weiteren Verschlechterung der Lage.

Ein wesentliches Problem stellen die falschen Vorstellungen über den richtigen Umgang mit Schmerzen dar, wie der Leiter des Wirbelsäulenzentrums der Universitätsklinik (UMC) Groningen, Michiel Reneman, erklärt. So glauben viele noch immer, sich bei Rückenschmerzen schonen zu müssen - bis hin zur Bettruhe. Eine völlig kontraproduktive Auffassung: Bewegung und gezielte Übungen helfen, Schmerzprobleme zu lindern, und können einer Verschlimmerung vorbeugen, betont Reneman. Allerdings muss der Patient vor Beginn solcher Maßnahmen einer ausführlichen medizinischen Untersuchung unterzogen werden, um bestimmte Krankheiten als mögliche Schmerzverursacher auszuschließen.

Fit für die Arbeit

Aktivitätsorientierte Schmerzbehandlungen mögen manchem Betroffenen zunächst ungewöhnlich erscheinen, doch ihre Akzeptanz ist hoch. "Es ist die Kunst, sie ihnen passend zu ihren eigenen Empfindungen zu präsentieren", sagt Reneman. Abgesehen davon merken die Menschen bei Umsetzung der Maßnahmen schnell, dass mehr Bewegung eben keine negativen Auswirkungen hat, berichtet der Experte.

Denn die möglichst zügige Rückkehr von Schmerzpatienten an ihren Arbeitsplatz ist ebenfalls wichtig. "Work heals - Arbeit heilt", heißt es diesbezüglich in Fachkreisen. "Sie lenkt von den Schmerzen ab", so Reneman. Auch der psychosoziale Aspekt dürfe dabei nicht unterschätzt werden. "Für viele Menschen ist die Arbeitstätigkeit Teil ihrer Kernwerte." Mit anderen Worten: Die Arbeit stärkt das Selbstbewusstsein der Betroffenen. In Großbritannien sei das "Work heals"-Prinzip längst Teil der nationalen Gesundheitspolitik.

Neue Ideen bringen auch klinisch nachweisbare Erfolge. Ein norwegisch-australisches Forscherteam hat die Wirksamkeit einer kognitiv-funktionellen Behandlungsmethode gegen unspezifische Rückenschmerzen im Rahmen einer randomisierten Studie getestet. Der Ansatz basiert auf der genauen Klassifikation der Beschwerden nach einem multidimensionalen Schema und der anschließenden Ausarbeitung eines individuell zugeschnittenen Therapiekonzepts. Letzteres wiederum besteht aus vier Komponenten.

Der kognitive Teil hilft dem Patienten zu verstehen, wie der Teufelskreis seiner Schmerzen durch bestimmte Verhaltensweisen aufrechterhalten wird. Spezifische Bewegungsübungen dienen zur Korrektur falscher Haltung und Bewegungsabläufe. Der behandelnde Physiotherapeut hilft den Betroffenen zudem, zuvor vermiedene Handlungen wie zum Beispiel das Treppensteigen wieder in den Alltag zu integrieren. Ein persönliches Trainingsprogramm für mehr körperliche Aktivität rundet das Konzept ab.

Die Experten ließen 62 Rückenschmerzpatienten zwölf Wochen lang nach dem oben beschriebenen Verfahren behandeln, eine 59-köpfige Kontrollgruppe erhielt derweil klassische manuelle und Bewegungstherapie. Die Auswirkungen wurden direkt nach der Behandlung und neun Monate später nochmals untersucht. Das Ergebnis: Beide Gruppen profitierten von den jeweiligen Therapien.

Die nach der kognitiv-funktionellen Methode behandelten Patienten meldeten jedoch eine deutlich größere Linderung ihrer Beschwerden als die Testpersonen aus der Kontrollgruppe. Auf dem standardisierten Owestry-Index zur Messung eines Behinderungsgrads verbesserte sich ihre Punktzahl um durchschnittlich 13,5 Punkte. Bei den konservativ Behandelten betrug dieser Fortschritt lediglich 5,5 Punkte. Das Konzept geht offenbar auf. Details wurden in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift European Journal of Pain veröffentlicht.

Interdisziplinäre Strategie

Viele Schmerzgeplagte haben bereits einen langen Weg durch Arztpraxen hinter sich, bevor ihnen endlich wirksam geholfen wird - ein Phänomen, welches auch als "Syndrom der dicken Akte" bekannt ist.

Am Wirbelsäulenzentrum des UMC Groningen verfolgt man deshalb eine umfassende interdisziplinäre und integrierte Strategie. Unterschiedliche Experten wurden unter einem Dach zusammengebracht und ergänzen sich bei den Behandlungen gegenseitig. "Wir arbeiten nicht seriell, sondern parallel, betont Reneman. Gleichzeitig statt nacheinander und in enger Absprache. Im Mittelpunkt steht das biopsychosoziale Modell.

Der Nutzen dieses Ansatzes lässt sich ebenfalls in harten Zahlen ausdrücken. Bei den im Groninger Wirbelsäulenzentrum behandelten Patienten fallen pro Person durchschnittlich Gesamtkosten von 15.302 Euro an. Regulär sind es in den Niederlanden 21.473 Euro pro Kopf. Und während die UMC-Betreuten im Durchschnitt nach 129 Tagen wieder voll arbeitsfähig sind, dauert es bei anderen niederländischen Rückenschmerzpatienten im Mittel 197 Tage (vgl.: British Medical Journal, Bd. 341, c 6414). Die Groninger Rehabilitationstherapie beruht eben nicht nur auf dem Aufbau eines Aktivitätenprogramms, sondern auch auf schrittweiser Rückkehr in die Berufstätigkeit. Therapeut, Arbeitnehmer und Arbeitgeber ziehen an einem Strang. "Das ist eine Voraussetzung für den Erfolg", sagt Reneman.

Manchmal gibt es gleichwohl auch noch ganz andere Schwierigkeiten zu überwinden. Harry Kletzko, Vizepräsident der Deutschen Schmerzliga, berichtet über die guten Erfahrungen, die man in Deutschland mit Intensivtherapien in spezialisierten ambulanten Schmerzzentren gemacht hat. Für einige stellt sich der Erfolg anscheinend sogar etwas zu schnell ein. "Sie ahnen nicht, wie viele Patienten gegen Ende des Programms in den Zentren versuchen zu verhandeln, ob sie nicht noch eine Woche krankgeschrieben bleiben können." Die Wohnung müsse noch zu Ende renoviert werden. (Kurt de Swaaf, Cure, DER STANDARD, 20.8.2013)