Latent positiver Schluss: Hiromi Kawakami.

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Von einer Reise nach Hokkaido schreibt Herr Nakano, ein Altwarenhändler, an seine Angestellten: "Ihr Lieben, ich bin jetzt in Sapporo. Ich habe Ramen gegessen, die chinesische Nudelsuppe, die hier so berühmt ist. Dschingis-Khan-Topf habe ich auch gegessen." Sehr viel mehr enthält die Postkarte nicht an Information. Der Roman hatte mit dem Satz begonnen: "Und überhaupt ... Reichen Sie mir mal die Sojasoße?"

Herr Nakano und die Frauen ist keine Geschichte vom Essen, die Figuren sind keine Feinschmecker, aber die Mahlzeiten prägen dennoch ihren Alltag, geben ihm Farbe und Rhythmus. Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß, Hiromi Kawakamis bisher - und zu Recht - erfolgreichstes Buch, könnte man dagegen durchaus als Speiseroman bezeichnen, denn hier genießen die beiden Protagonisten, ein pensionierter Lehrer und seine ehemalige Schülerin, ausgiebig Speis und Trank und unterhalten sich gern darüber. Ein Sesshaftigkeitsroman, denn wenn überhaupt, dann bewegt man sich aus dem Stadtviertel, wo man ohnehin alles hat, in die nahen Berge, um Pilze zu sammeln, oder ach Tokio-Disneyland, um wieder und immer noch Kind zu sein.

Kawakamis Romane muss man nicht als "realistisch" bezeichnen, sie sind empfindsam, ein wenig psychologisch, ab und zu auch witzig, aber sie enthalten viel vom japanischen Alltag der Jahre nach dem Ende der Bubble-Economy, also der Gegenwart, in der viele Menschen, besonders die jungen, von der allgemeinen Unsicherheit erfasst werden und zugleich versuchen, an herkömmlichen Formen und Werten festzuhalten. So ergeben sich jede Menge Widersprüche, die meisten davon recht unspektakulär: Wirklichkeit als Fundgrube für eine feinfühlige, schreibgewandte Autorin wie Hiromi Kawakami.

Auch in Bis nächstes Jahr im Frühling, ihrem neuen Roman, spielt das Essen eine bedeutende Rolle, aber im Unterschied zu Der Himmel ist blau, wo dieser Genuss Ergänzung und Verwirklichung einer ungewöhnlichen Liebesbeziehung ist, dienen die Speisen und das Sprechen darüber der Ablenkung von den Problemen einer Ehe und der Perspektivlosigkeit der Figuren.

Man geht schön essen, vielleicht sogar mit dem Hintergedanken, sich endlich einmal auszusprechen, und dann bleibt das aus der Innenwelt nach außen Drängende doch wieder ungesagt. Die Frau bestellt sich Fugu, den Glücksfisch, dessen Verzehr lebensgefährlich sein kann, doch ihr Glück weiß sie nicht zu fassen, den Gefahren weiß sie sich nicht zu stellen, sie geht ihnen lieber aus dem Weg.

Dieses Zögern, Schweigen, Herumlavieren kann dem europäischen Leser schon einmal auf die Nerven gehen; es transportiert, auch in seiner Erzählform, zeitgenössische Wirklichkeit: eine Art der Ermattung, gegen die sich manche aufbäumen, zum Beispiel das anstößige, dabei so zarte Liebespaar in Der Himmel ist blau, der viele aber erliegen, zum Beispiel Noyuri, die Protagonistin im neuen Roman, und auch ihr Mann, dessen Seitensprünge in noch höherem Grad Ausdruck von Trägheit sind.

Bis nächstes Jahr im Frühling hat einen offenen, das heißt latent positiven Schluss. Noyuri hat sich immer wieder gesagt, dass sie sich von Takuya trennen sollte. Einen Schritt in diese Richtung hat sie getan, indem sie in eine winzige Wohnung gezogen ist und ein Single-Dasein mit prekärem Arbeitsverhältnis führt. Aber ist das wirklich der richtige Weg? Sie zögert immer noch. "Takuya, ich habe Hunger", ruft sie in der letzten Szene ihrem Mann über die Straße hinweg zu. "Lass uns irgendwo ein paar Nudeln essen und dann nach Hause gehen", ist seine Antwort. Noyuri läuft voraus, Takuya wartet, der Strom der Autos trennt die beiden. Ist das ein Sinnbild? Oder wird das "durchhalten, durchhalten" in der Ehe ewig weitergehen? Oder hat das Durchhalten vielleicht doch seinen Sinn?

Geschmeidige Erzählliteratur

Die Scheidungsrate ist in Japan viel niedriger als in den westeuropäischen Ländern. Dennoch gibt es in diesem Land dieselbe Tendenz: Ehen, die pro forma geführt werden, abwesende Väter, mehr und mehr Singles, heiratswillige junge Menschen, die keinen Partner finden, antriebsschwache Jugendliche, wie sie in Herr Nakamura nicht ohne Sympathie geschildert werden, manchmal auch Patchwork-Familien.

Haruki Murakami hat sich in 1Q84 mit der familiären Gewalt gegen Frauen auseinandergesetzt, einem anderen Phänomen, das in Japan zumeist verschwiegen wird. Er hat es in seinem redseligen Roman verspielt, dieses wichtige Thema, weil er zwischen Fantasy-Genre und Wirklichkeitsdarstellung nicht zu entscheiden wusste. Kawakami bleibt bei ihren Anliegen, sie konzentriert sich aufs Wesentliche, das sie in seinen Details und Nuancen aufspürt. Wer leichte, geschmeidige Erzählliteratur liebt und gleichzeitig die verborgenen Winkel, die Tabuzonen, auch die heimlichen Freuden einer instabilen Gesellschaft erkunden will, der sollte Hiromi Kawakami lesen.     (Leopold Federmair, Album, DER STANDARD, 10./11.8.2013)