Lesung "Hans Tracks" beim Festival Cantiere Internazionale d' Arte.

Foto: Cantiere Internazionale d' Arte

Hans Werner Henze mit den Kindern des "Pollicino".

Foto: Antonio Fatini

Henze bei der Arbeit.

Foto: Antonio Fatini

In Montepulciano.

Foto: Antonio Fatini

"Vorrei essere italiano" / ("Ich wäre gerne ein Italiener"), sagte Hans Werner Henze in einem seiner letzten Interviews. Und auch wenn er hinzufügte, dass "Italien ihn nie enttäuscht" habe, muss es doch zumindest eine große Enttäuschung, eine große, nie geheilte Wunde in dieser Beziehung gegeben haben: den Cantiere Internazionale d'Arte in Montepulciano.

Sommerlager und Gegen-Festival

1976 von dem damals schon bei Rom lebenden deutschen Komponisten in der toskanischen Kleinstadt gegründet, sollte der Cantiere - wie der zeittypische Name (Baustelle) schon sagt - ein vor allem gegen Gian Carlo Menottis Spoleto gerichtetes Gegen-Festival sein. Ein soziokulturelles Projekt, ein musikalisches Sommerlager, in dem alle Mitwirkenden unentgeltlich auftreten, aber alle gemeinsam in der Mensa essen sollten, um so alle miteinander - Einheimische und Zugereiste - durch das segensreiche Wirken der Musen bessere und glücklichere Menschen zu werden. Eine Art Kunst-Kommunismus in einer dadurch "ideal" gewordenen Stadt, gespeist aus der utopischen Energie der Post 68-er-Bewegung: "Wahrheit ist Schönheit!"

Trotz großer Anfangserfolge, zum Beispiel der extra für die "bambini di Montepulciano" geschriebene Kinderoper "Pollicino", die von hier ihren Welterfolg antrat und derzeit auch auf dem Spielplan der Wiener Staatsoper steht, schmiss der sensible Künstler 1980 nach endlosen Querelen mit den lokalen Autoritäten bereits wieder das Handtuch. Ein paar Jahre später nahm er auf Wunsch seiner Partei, der PCI, das Schicksal seiner Kreatur wieder in die Hand, 1992 war dann aber nach erneuten Meinungsverschiedenheiten endgültig Schluss.

Anlässlich seines Ablebens im Oktober 2012 hat der wundersamerweise - trotz aller finanziellen Schwierigkeiten - immer noch existierende Cantiere Internazionale d'Arte seinem Schöpfer jetzt eine große Hommage gewidmet. Es gab naturgemäß Aufführungen einiger seiner Werke ("Whispers from Heavenly Death", ein kleines Potpourri aus "Boulevard Solitude", die kleine Suite aus "Pollicino"), eine Musikschule wurde nach ihm benannt, man publizierte ein Buch mit Erinnerungen einer beeindruckenden Schar vom Maestro frühest geförderten, später berühmt gewordenen Künstlern wie Riccardo Chailly, Willy Decker, Peter Maxwell Davies, Giorgio Battistelli, William Forsythe und Gianluigi Gelmetti. Alles sehr bewegend, aber relativ unproblematisch und harmlos. Denn einen Toten kann man bekanntlich leicht ehren, da er sich nicht mehr wehren kann.

Lesung "Hans Tracks"

Sehr viel mutiger war hingegen eine szenische Lesung mit dem nicht sehr genialen Titel "Hans Tracks". Einige Mitstreiter Henzes haben in mühseliger Kleinarbeit aus den Kisten seines Nachlasses, den Archiven der Kommune, Zeitungen, Telegrammen, Briefen, Faxen, Aktennotizen etc. eine Fülle von unglaublichem Material über Henze und Montepulciano zusammengetragen und dieses mit heiligem Ernst, aber kommentarlos im Teatro Poliziano präsentiert, wo sich sich eine Tragödie von nahezu griechischen Ausmaßen entfaltete: der unlösbare Konflikt zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft, zwischen dem Fremden und den Ortsansässigen, zwischen den idealen, aber überspannten Ideen des "Revolutionärs" und den bescheideneren Bedürfnissen des überforderten "Volkes".

Henze im O-Ton klingt hier manchmal so resigniert wie der späte Che Guevara in seinen bolivianischen Tagebüchern ("Die Bauern sind wie Steine"). Und er malt sich ein noch grausameres Schicksal aus, als es der argentinisch-kubanischen Rebellionsikone widerfuhr: "Auf der Piazza Grande werden sie mich niedermetzeln, und meine Eingeweide an die streunenden Hunde verteilen."

Soweit ist es dann doch nicht gekommen, vor allem weil er "aus Selbstschutz" seinen Wohnsitz bei Rom beibehalten hatte, aber Henze verließ Montepulciano nach den x-ten Streitigkeiten mit der Kommunalverwaltung Hals über Kopf, sozusagen "vertrieben", sozusagen bei "Nacht und Nebel", wie Ödipus' Theben, wie ein Schubertscher Wanderer am Ende seiner "Sommerreise": fremd war er eingezogen, fremd zog er wieder aus.

Und er kehrte auch nie wieder in seinen "U-topos " zurück, außer einmal zur Entgegennahme einer Ehrenwürde. Allerdings unter der Bedingung, dass seine Feinde von damals sich für diesen einen Tag nicht in der Stadt blicken ließen. Das Beeindruckendste an diesem Abend war, dass - obwohl es naheliegend gewesen wäre - keine "Schuldigen" gesucht wurden. Wie in der griechischen Tragödie hatten alle Beteiligten (auch der Bischof!) von ihrer Warte aus gesehen Recht. Nur die Standpunkte waren halt unglückseligerweise (und höchstwahrscheinlich von Anfang an) vollkommen unvereinbar. Was für ein Stoff für eine Oper.

"Ich habe Montepulciano zu sehr geliebt", lautet Henzes abschließendes Statement über sein messianisches Abenteuer. Und wenn die Gerüchte stimmen, dass er sein "Kind", seine "Kreatur", den "Cantiere" auch nach dem Bruch mit den Stadtoberen weiterhin - unter dem Pseudonym seiner Bühnenfiguren - mit Geldüberweisungen versorgt haben soll, mag das wirklich so gewesen sein. Und das fügt dem unausweichlichen Drama noch eine weitere, herzzerreißende Note hinzu. (Robert Quitta, derStandard.at, 14.8.2013)