Skorpione geben mit dem Stachel hochpotente Gifte ab und töten damit auch immer wieder Menschen. Dieses Exemplar wird für medizinische Zwecke gemolken.

Foto: Pierre Escoubas 2013

Eine Schlange muss im Labor für die Forschung Gift lassen.

Foto: Pierre Escoubas 2013

"Ich melke Skorpione, überlasse Schlangen und Spinnen aber lieber Kollegen", sagt der französische Biologe Pierre Escoubas. Der Umgang mit Gifttieren verlangt viel Erfahrung - nur dann ist das Risiko gering, gebissen oder gestochen zu werden. Das schützt aber nicht vor ungemütlichen Momenten, gesteht der Gründer und Leiter des Forschungsinstituts VenomeTech: "Vor einigen Jahren erhielt ich einen Jutesack mit 50 lebenden Skorpionen. Da habe ich mich schon gefragt, wie ich die da einzeln rauskriege."

Escoubas ist Koordinator des mit sechs Millionen Euro dotierten EU-Projekts "Venomics", das Tiergifte erforscht, um pharmakologisch relevante Bestandteile zu isolieren. Bis heute wurden weltweit "nur" etwa 3500 Toxine beschrieben. "Das ist ein winziger Teil eines riesigen Eisbergs, das Potenzial für Entdeckungen ist gigantisch", sagt Escoubas. Denn es existieren weit über 100.000 Gifttiere. Jedes einzelne Tiergift enthält dabei nicht nur eine Wirksubstanz, sondern besteht aus bis zu 500 verschiedenen Toxinen, meist kleinen Proteinen, die Peptide genannt werden.

Wissenschafter in aller Welt sind an diesen Peptiden interessiert. Denn die Giftcocktails von Spinnen, Schlangen und Skorpionen entwickelten sich im Laufe der Evolution mit nur einem Ziel: Sie töten Beute oder Feind in Minuten. Dies geschieht, indem sich verschiedene Toxine spezifisch an Rezeptoren in bestimmten Geweben der Beute heften, etwa Rezeptoren des Herzens oder des Nervensystems. "Das funktioniert nach dem Schloss-Schlüssel-Prinzip. Das Toxin ist der Schlüssel, der Zellrezeptor das Schloss. Medikamente wirken auf die gleiche Weise. Deshalb sind Toxine ideale Arzneivorlagen", so Escoubas.

Tiertoxine als Medikamente

Einige Toxine haben es bereits in die Regale der Apotheken geschafft, andere sind auf dem Weg dorthin. Vor wenigen Wochen veröffentlichte ein US-Forscherteam, dass die Substanz ShK-186, die aus dem Gift der Sonnenanemone entwickelt wurde, gegen Übergewicht helfen könnte. Ein französisches Team entdeckte ausgerechnet im Gift der gefürchteten afrikanischen schwarzen Mamba sogenannte Mambalgine, Peptide, die bei Mäusen stark schmerzlindernd wirken.

Insgesamt zwölf Medikamente wurden bereits zugelassen. Das Schmerzmittel Prialt stammt aus dem Gift einer Kegelschnecke und ist seit 2006 erhältlich. Es wirkt 1000-mal stärker als Morphium, macht aber nicht süchtig. Der Wirkstoff Captopril geht auf ein Toxin im Gift der brasilianischen Grubenviper zurück. Mitte der 1960er-Jahre entdeckte man, dass Menschen, die von der Grubenviper gebissen wurden, mit einem oft tödlichen Blutdruckkollaps zusammenbrachen. Das Gift wurde untersucht, der blutdrucksenkende Wirkstoff isoliert und Captopril gut 15 Jahre später in den USA zugelassen.

Ein weiteres Beispiel ist das Präparat Byetta, ein Protein, das aus dem giftigen Speichel der Krustenechse gewonnen wurde. Das Mittel hilft Diabetikern, ihren Blutzuckerspiegel stabil zu halten. Auch indirekt können Gifte helfen: Ein Toxin des gelben Mittelmeerskorpions heftet sich spezifisch an Krebszellen in Hirntumoren, aber nicht an gesundes Gewebe. Der Neuroonkologe Jim Olson aus Seattle hatte die Idee, das Toxin mit einem Farbstoff zu markieren. Die "Tumorfarbe" könnte Neurochirurgen ihr Handwerk in Zukunft wesentlich erleichtern. Denn Chirurgen könnten dann exakt zwischen krankem und gesundem Gewebe unterscheiden - was bislang schwierig ist - und den Hirntumor vollständig entfernen. Klinische Studien am Menschen sollen laut Olson schon Ende 2013 beginnen.

Im Rahmen von Venomics wird das Gift von 200 Tierarten, darunter Schlangen, Skorpione, Spinnen, Wespen und Meeresschnecken, charakterisiert. Medizinisch interessante Toxine speisen die Forscher in eine Datenbank ein. Langfristig sollen diese Proteine künstlich hergestellt werden. Das spart Kosten und ermöglicht eine effizientere Forschung.

Mühsames Spinnenmelken

Denn die Gewinnung von Tiergiften kann äußerst mühsam sein: "Die Diamant-Klapperschlange liefert auf einen Schlag 500 Milligramm Gift, aber manche kleinen Spinnenarten müssen hunderte Male gemolken werden, um ein Milligramm zu erhalten", sagt Rudy Fourmy, der Direktor des belgischen Labors AlphaBioToxine, einer von drei Einrichtungen in Europa, die Tiergifte produzieren. Dazu kommt, dass die meisten Gifttiere nicht in Labors gehalten werden, sondern in der Wildnis leben, meist in schwer zugänglichen Regionen.

Entsprechend hat auch Pierre Escoubas mehrere Expeditionen nach Französisch-Guayana und Polynesien organisiert, um Tiere zu fangen, deren Gift noch nie erforscht wurde. Tiere, die unter Artenschutz stehen, sind davon ausgenommen.

"In Zukunft wird die Erforschung von Tiergiften einfacher werden", sagt Zoltan Takacs, Toxikologe und Schlangenexperte an der Universität Chicago. "Neue Technologien ermöglichen mittlerweile die Untersuchungen von winzigen Giftmengen. Hinzu kommt, dass Toxine heute auch aus der Erbgutinformation der Giftdrüsen erschaffen werden können." Mithilfe von Kollegen hat Takacs eine Gift-Bibliothek erstellt, mit deren Hilfe sich pharmakologisch interessante Peptide schneller auffinden lassen.

Sorgen bereitet dem Forscher der Artenschwund. Mit jedem Gifttier, das ausstirbt, verschwinden potenziell nützliche Toxine. (Juliette Irmer, DER STANDARD, 17.7.2013)