Sathish Samuel war zehn Jahre in der Aidshilfe tätig. Heute koordiniert er die Kindernothilfe in Indien.

Foto: Cremer

"Das interessiert weder Medien noch Politiker ", sagt er im STANDARD-Interview zu Julia Herrnböck.

STANDARD: Wie hat sich die Debatte in Indien zum Thema Gewalt an Frauen verändert, seit der Fall der Studentin publik wurde, die an den Folgen einer Gruppenvergewaltigung verstorben ist?

Samuel: Es wird mehr darüber diskutiert, aber nur in großen Städten wie Neu-Delhi, wo es passiert ist. In den ländlichen Gegenden, wo 80 Prozent der indischen Bevölkerung wohnen, ist sexuelle Gewalt weiterhin ein Tabu. Dafür interessieren sich weder die Medien noch Politiker. Der Fokus der Aufmerksamkeit bleibt bei den Städten, deswegen bin ich nicht allzu euphorisch.

STANDARD: Sexualität ist in der indischen Gesellschaft ein heikles Thema - wie können Kinder darüber aufgeklärt werden?

Samuel: In der Schule darf das Wort Sex nicht ausgesprochen werden. Die Eltern meinen, man würde die Kinder verderben. Meine Tochter ist Lehrerin und wurde von der Privatschule verwiesen, weil sie zum Thema Aids über Kondome sprechen wollte. Dabei ist es so wichtig, dass schon kleine Kinder wissen, was "gute" und "schlechte" Berührungen von Erwachsenen sind. Wir schulen Frauen in den Dörfern in Selbsthilfegruppen, vor allem im Bereich der Menschenrechte. Sie tragen dieses Wissen in ihre Familien. Frauen sind der Motor für Entwicklung - davon bin ich überzeugt.

STANDARD: In Indien verschwinden jährlich etwa 40.000 Kinder. Was passiert mit ihnen?

Samuel: Viele landen bei organisierten Bettelbanden. Einige werden verkauft, vor allem in arabische Länder. Es gibt Gerüchte, dass sie bei illegalen Kamelrennen eingesetzt werden, aber ich habe keine Beweise. Das größte Problem ist natürlich Prostitution. Früher waren etwa Tempeltänzerinnen angesehen, heute werden sie wie Sklavinnen gehalten und missbraucht. Wir haben mittlerweile etwa 100 Töchter der Tänzerinnen in unserem Schulprogramm ausgebildet. Viele von ihnen sind bald volljährig und engagieren sich jetzt für Frauenrechte.

STANDARD: Spielt Kindestötung von Mädchen noch eine große Rolle?

Samuel: Leider ja, auch wenn es schon mit hohen Strafen belegt ist. Vielen Ärzten auf dem Land ist es untersagt, während der Schwangerschaft das Geschlecht des Kindes bekanntzugeben. (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 15.7.2013)