Wien - Manche Kunstwerke zielen direkt darauf ab, das Maß der Freiheit in einer Gesellschaft auszuloten. Das Tanzstück Prêt à baiser des französischen Choreografen Olivier Dubois (41) ist dafür ein Musterbeispiel. Zum Impulstanz-Festival-Auftakt im Odeon gab es für dieses scharfe Männerduett jedenfalls kräftigen Applaus. Das wäre wohl nicht überall so.

Ein junger Mann, Mohamed Kouadri-Sameut, sitzt wartend auf einer Bank. Ein zweiter, etwas älterer - Olivier Dubois selbst -, setzt sich zu ihm. Sie blicken einander tief in die Augen. Über eine Viertelstunde hin bewegen sie sich beinahe unmerklich aufeinander zu. Ein hoher Ton, der sich leise in den Raum gestohlen hat, schwillt an. Als aus diesem Ton Strawinskys Musik Le sacre du printemps hervorbricht, berühren sich die Lippen der Tänzer.

Ein Kuss beginnt. Bis zum letzten Ton der Komposition dauert er und könnte mit 35 Minuten der längste Kuss der Tanzgeschichte sein. Leidenschaftlich ist er von der ersten Sekunde an, wird stetig drängender. Vor allem der Ältere stachelt den von dieser Kraft überraschten Jüngeren mit seinem Ungestüm dazu auf, Paroli zu bieten, alle Zurückhaltung sein zu lassen.

Dubois zeigt ein Kräftemessen - innerhalb der Struktur jener Geschichte, die Le sacre du printemps erzählt: Ein Mädchen tanzt sich in einer archaisch-patriarchalen Gesellschaft zu Tode, um die Gunst der Götter zu wecken. An manchen Stellen von Prêt à baiser, wenn sich der von Stroboskopblitzen begleitete Akt in einen Kampf verwandelt, scheint es, als würden sie sich zu Tode küssen.

Diese Interpretation des Opfers ereignet sich vor Augen eines Publikums, das stellvertretend für eine Geschichte der bis heute fortbestehenden Homophobie, im Theater sitzt. 100 Jahre nach der skandalträchtigen Uraufführung von Le sacre holt Dubois dessen kulturelle Brisanz mit seinem konkreten Motiv wieder hervor. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 13./14.7.2013)