Willkommen im Reich der Paranoia. In der nun wieder in die Schlagzeilen geratenen Welt der Geheimdienste "lehrt einen der Zynismus, der eigenen Freude zu misstrauen, die man verspürt, wenn sich zuvor verstreute Fakten zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Wenn das nur eine Spur zu einfach geht, könnte es der erste Hinweis darauf sein, dass es sich um eine von anderen vorfabrizierte Geschichte handelt. Mit einem Wort, um Desinformation."

Den Agentenausbildner Hugh "Harlot" Montague, der diesen Lehrsatz verkündet, gibt es nur im Roman. Der inzwischen 80-jährige US-Autor Norman Mailer machte ihn vor zwölf Jahren nach lebenden Vorbildern zur Titelfigur von Harlot's Ghost (Gespenster - das Epos der geheimen Mächte). Im Zentrum des 1300-Seiten-Wälzers steht die CIA, deren Wesen Mailer - so schrieb ein Rezensent - ins Metaphysische hebt, wie Herman Melvilles Moby Dick den Walfang und Thomas Manns Zauberberg die Krankheit.

Macbeth und Le Carré

Wie schon in William Shakespeares Macbeth wurden die Grundkonflikte um Loyalität und Verrat, Machtgier und über Leichen gehendes Intrigantentum auch im Genre der Spionageliteratur aufgerollt und immer wieder variiert.

Großmeister wie Graham Greene (1904-1991), dessen mit Vietnam- und vielleicht sogar Irak-Vorahnungen verblüffender Stiller Amerikaner derzeit als Neuverfilmung in den Kinos läuft, griffen dabei auf eigene Erfahrungen zurück: Greene war im Zweiten Weltkrieg britischer Agent in Afrika.

Auch der Engländer John Le Carré hat, mit weniger literarischem Tiefgang, seine Laufbahn als Thrillerautor auf eigenen Erfahrungen im Schattenreich der Geheimdienste (u.a. 1958/59 für den Nachrichtendienst der britischen Armee in Wien) aufgebaut.

Ganz selten schaffen es frühere Geheimdienstler, ihre Erinnerungen ungeschminkt zu veröffentlichen. Etwa der CIA-Agent Philip Agee (Inside the Company) oder der Brite Peter Wright, dessen Spycatcher in der Thatcher-Ära nur in Australien und den USA erscheinen durfte. "Wir hatten Spaß", heißt es da an einer markanten Stelle. "Auf Geheiß des Staates brachen wir fünf Jahre lang in London in Häuser ein und hörten Telefone ab, während die Beamten in Whitehall vorgaben, unter ihren Melonen wegzusehen."

Dazu kommen noch zahlreiche Bücher von Journalisten, von denen der Watergate-Aufdecker Bob Woodward mit Veil ("Schleier"), einer Geschichte der "geheimen Kriege der CIA", der bekannteste ist.

Norman Mailer (derzeit mit dem dünnen Band Heiliger Krieg - Amerikas Kreuzzug wieder präsent) hat sie fast alle gelesen und zu einem Epos über die CIA kondensiert, in dem er auch eine "Lehrstunde" zur Anwerbung von Spionen beschreibt. Oberstes Gebot sei die "uneigennützige Verführung". Der Agentenkeiler tritt seinem Opfer freundlich entgegen, sucht nach dessen menschlichen Schwächen (sexuellen Vorlieben, Karrierewünschen) und überschüttet ihn mit Sympathie, als handle es sich um "einen reichen, alten Verwandten".

Die Falle schnappt zu

Erst dann, wenn das Opfer diese rare Zuwendung nicht mehr missen will, fordert der Anwerber eine kleine, harmlose Gefälligkeit (etwa die Überlassung einer internen Telefonliste aus dem Büro).Willigt das Opfer ein und akzeptiert später auch noch eine materielle Gegenleistung, dann ist die Falle schon zugeschnappt. Weitere Aufträge werden notfalls mit der Drohung abgepresst, den Informanten auffliegen zu lassen.

Solche Lehrbuchfälle gab und gibt es auch in der Realität. Im Polen der endenden KP-Ära fand ein damals bekannter (und verheirateter) österreichischer Journalist eine verständnisvolle Freundin. Gleichzeitig bot ihm sein Anwerber günstige medizinische Behandlung für die schwer kranke Tochter daheim an. Im nächsten Schritt wurde gedroht, die Liebschaft publik zu machen - und schon war ein neuer Agent geboren.

In der Endphase des Kommunismus in Osteuropa, die ich als Auslandsreporter für profil verfolgte, galten auch auch mir derartige, wenngleich viel plumpere Annäherungsversuche. Einmal wollte ein Botschaftsangehöriger eine schriftliche Einschätzung der österreichische Medienlandschaft und ihrer Akteure. Er versprach, den Arbeitsaufwand großzügig zu honorieren.

Ein anderes Mal bestand ein Insider des polnischen Regimes, der wichtige Informationen anbot, darauf, mich auf einem belebten Platz zu treffen - um dann praktisch nichts zu sagen. Das Arrangement konnte nur dann Sinn haben, wenn das geheimnisvolle Treffen unbeobachtet fotografiert werden sollte - und wurde von mir an Österreichs Außenministerium gemeldet.

Dies, um zu verhindern, dass später ein Überläufer als Mitbringsel solch ein Foto (samt einer Liste erfundener "Gefälligkeiten", womöglich samt Honoraren) vorweisen könnte. Denn für einen Journalisten wie auch für jeden in anderen sensiblen Bereichen Tätigen bedeutet eine derartige "Enthüllung", auch wenn sie erlogen ist, zumeist das Ende der Karriere.

Ständiges Misstrauen

Vor dem Auffliegen, vor dem Ausgestoßenwerden aus der verschworenen Gemeinschaft, so lehrt Mailers "Harlot", ist kaum ein Mitarbeiter geheimer Dienste gefeit. Wegen der beständigen Paranoia, der Angst, von Gegnern unterwandert zu werden, bilden sich im Dienst zu immer weiteren Spaltungen neigende Gruppen, die einander misstrauen. Gerät ein Mitglied in den Verdacht der Illoyalität, wird er fallen gelassen.

Für den Betroffenen bedeutet das in vielen Fällen - wie man soeben in der Realität gesehen hat - den Verlust der beruflichen Existenz, der Identität - das Aus. (DER STANDARD, Printausgabe vom 28.7.2003)